Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden

Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2015, ISBN 978-3-423-34836-2, 208 Seiten, kartoniert, Format 19,1 x 12,4 cm, € 9,90 (D) / € 10,20 (A) / CHF 14,90

Der schmale Band kann als Vermächtnis des 1923 in Berlin geborenen, 1936 in die USA emigrierten, seit 1958 in Zürich lebenden und kürzlich dort verstorbenen Psychoanalytikers Arno Gruen verstanden werden. Gruen hat ein Leben lang danach gefragt, warum unsere Kultur und Zivilisation von jetzt auf nachher in Hass und Barbarei umschlagen kann und dabei versucht, dem Wie unseres Seins näher zu kommen. Nach Gruen verleugnet und verneint unsere Kultur unser grundlegendes empathisches Bewusstsein, weil es auf abstraktem Denken aufruht. „Wir glauben, unser Denken sei realistisch, wenn es von Mitgefühl befreit ist, von der Fähigkeit, Schmerz zu teilen, Leid zu verstehen, und vom Gefühl der Verbundenheit mit allen
Lebewesen. Denken wir aber ohne Mitgefühl, dann leben wir in einer Scheinwelt aus Abstraktionen, die Kampf und Konkurrenz zu den Triebkräften unserer Existenz macht. In ihr kann nur überleben, wer andere unterwirft oder vernichtet. Diese Vorstellung ist auf Feinde angewiesen … Indem das abstrakt Denken … das Empathische in uns ersetzt, entfernen wir uns immer mehr von jeder unmittelbar gefühlten Wirklichkeit. Wir wenden uns dem Untergang zu“ (Arno Gruen S. 11), dem Nichtsein. Deshalb kommt alles darauf an, das empathische Bewusstsein „wieder zum Herzstück unseres Seins zu machen“ (Arno Gruen S. 10).

Nach Gruen sind unsere Wahrnehmungen durch zwei fundamentale Erlebnisse geprägt. „Sie kreisen darum, wann ein Säugling gefüttert wird und wann er schlafen muss. Entsprechen die Eigenwahrnehmung des Kindes – sein Bedürfnis nach Nahrung oder sein Wunsch, wach zu sein – nicht den Erwartungen der Eltern, entsteht eine Unstimmigkeit, eine Disharmonie, möglicherweise ein Konflikt. Je nachdem, ob und wie dieser Konflikte beigelegt wird, beschneidet er die empathischen Wahrnehmungen des Kindes elementar. Aus diesem Grund entscheidet sich schon in den allerersten Wochen und Monaten, ob ein Kind später einen Selbstwert entwickelt, der sich aus den eigenen Gefühlen entfaltet, auf ihnen aufbaut, infolge eines früh eingeforderten Gehorsams unterentwickelt bleibt oder sogar ganz verdrängt werden muss. Eine eigene Substanz entwickelt sich nur, wenn ein Kind bereits als Säugling Schmerz, Leid und Not, also die eigenen empathischen Reaktionen, annehmen und mit den Eltern teilen kann. Nur so entwickelt sich eine innere Kraft, die trotz Unsicherheit, die ein Kind umgibt, Stärke vermittelt, weil Verletzlichkeit dann keineswegs Schwäche, sondern mitfühlendes Teilen mit den Eltern bedeutet“ (Arno Gruen S. 12 f.). „Was die Empathie zerstört, nämlich die Nichtachtung der Bedürfnisse und Wahrnehmungen des Kindes, ist auch das, was die tiefsten Unsicherheiten entstehen lässt, die dazu führen, dass ein Mensch anfängt, nach einer absoluten Sicherheit zu jagen, die das Urvertrauen, das wir als Neugeborene verloren haben, ersetzen soll. Und dies wird zu Quellen eines Machtstrebens, einer Jagd nach Größe, Herrschaft und Besitz, um dem Albtraum unterzugehen oder zu versagen, zu entkommen … Es ist das, was zu den halluzinierten Mythen des Profits und des Groß-Seins führt, in deren Wahn die Welt zerstört wird“ (Arno Gruen S. 105 f.). Die zerstörerische Seite der in unserer Gesellschaft institutionalisierten Abstraktionen zeigt sich etwa in der Vorstellung, dass Soldaten in der Jagd auf Frieden in den Krieg ziehen und beim Töten keinen Schmerz zeigen dürfen, in der neoliberalen Annahme, dass keine gesellschaftliche Verantwortung für Arbeitslose besteht, weil Regierungen sparen müssen und in einem Wertesystem, das den Machttrieb, den Trieb nach Größe und den Wettbewerb „nicht nur verherrlicht, sondern sogar als lebensfördernd ansieht … Um uns zu rechtfertigen, teilen wir die Menschen in Kategorien ein, nach denen einige als stark, andere als schwach eingestuft werden können: So bewundern wir die Reichen und verachten die Armen. Auf diese Weise werden Menschen immer häufiger als minderwertig und unterlegen kategorisiert … Vorurteile gegen die, die tief auf der Statusleiter stehen, werden stärker, und soziale Pathologien, die aus Benachteiligung entstehen (etwa Kriminalität), vermehren sich“ (Arno Gruen S. 106f.).

Für Gruen beginnt die Abkehr von der Empathie mit der Zerstörung matriarchaler Kulturen und dem Auftauchen der „sogenannten Hochkulturen vor um die 8000 bis 10.000 Jahren“ (Arno Gruen S. 76). In archaischen Kulturen ist für ihn dann auch die Lösung zu finden. So hat E. R. Sorenson 2006 beschrieben, dass die in von unserer Zivilisation unberührt gebliebenen Völkern erlebbare Empathiefähigkeit schon bei der Kinder- und Säuglingspflege beginnt. Kleinkinder bleiben in andauerndem Körperkontakt mit der Mutter oder ihren Freunden. „Die Babys reagieren auf diese empathisch-taktile Stimulation mit eigenen taktilen Antworten. Sie müssen nicht schreien oder wimmern, um mit ihrer Umwelt zu interagieren. Vielmehr entsteht auf diese Weise eine hoch entwickelte präverbale Kommunikation, eine Art Bewusstheit, wie wir sie gar nicht kennen. Unter diesen Umständen tritt auch keine Geschwisterrivalität auf: >>Wenn Nahrung, Komfort und Stimulation dauernd vorhanden sind, müssen die Kleinkinder nicht hilflos warten, bis ihre Bedürfnisse erfüllt werden, << so Sorenson dazu. Kein emotionales Bedürfnis, das sich für seine Befriedigung auf abstrakte Erwartungen der Eltern fokussieren muss, entwickelt sich. Das Bewusstsein, das sich hier entwickelt, unterscheidet sich von unserem verengten Zivilisationsbewusstsein ganz grundsätzlich … Um die Welt empathisch zu erproben, muss es dem Säugling möglich sein, sich einer“ Umwelt zuwenden, die durch niedrige Stimulationsintensitäten ausgezeichnet ist. „Niedrige Stimulationsintensitäten lösen Reaktionen der Annäherung aus; hohe bewirken dagegen das Zurückziehen. Die niedrigen Stimuli fördern die Entwicklung der emphatischen Vorgänge, vorausgesetzt Säugling und Mutter wenden sich in voller Empathie einander zu. Das entgegenkommende Verhalten der Mutter garantiert dem Kind, dass es nicht von einem Übermaß an Stimulation überwältigt wird“ (Arno Gruen S. 122 f.). Was ist also zu tun? Nach Gruen müssen wir das erweiterte, das Mitgefühl, die Angst und den Schmerz einbeziehende Bewusstsein schützen und fördern, „indem wir die lebendige Interaktion zwischen Mutter und Kind als entscheidenden Faktor in der Evolution unserer Spezies berücksichtigen … Liebe - und nicht Profit, Größe oder Leistung - ist das entscheidende Merkmal unserer Evolution … Wenn wir den Prozess der Selbstentfremdung unterbrechen, uns selbst mit all unseren Schwächen und unserem Selbst annehmen und die Schwächen anderer respektieren, dann können wir uns selbst und andere wieder lieben lernen“ (Arno Gruen S. 173 f.). Hasspredigern, Terroristen und Selbstmordattentätern, die ihrer erlebten Bedeutungslosigkeit und ihrer inneren Leere durch Feindbilder und „Heldentaten“ aufhelfen wollen, wird dann, so steht zu hoffen, die emotionale Grundlage entzogen sein. Und den Verfechtern eines grenzenlosen, aber letztlich selbstzerstörerischen Wachstums auch. ham, 29.10.2015 Download

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