Das Christentum im Zeitalter von Säkularität und Multireligiosität

Transcript Verlag Bielefeld, Edition Kulturwissenschaft Band 102, 2017, ISBN 978-3-8376-3496-9,
446 Seiten, Hardcover, gebunden, Format 23 x 15 cm, € 29,99

Brigitte Rommelspacher hat mehrere Jahre zum Thema „Wie säkular ist die säkulare Gesellschaft?“
geforscht, sich in dieser Zeit bemerkenswert gründlich in die Christentums-, Kirchen und
Theologiegeschichte eingearbeitet und dabei Autoren wie den katholischen Kirchenhistoriker
Arnold Angenendt, den jüdischen Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und den evangelischen
systematischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf ebenso rezipiert wie offizielle und offiziöse
Verlautbarungen des Vatikans und der EKD zum Verhältnis der Kirchen zu sich säkular
verstehenden Staaten. Die jetzt posthum veröffentliche Studie zur spannungsreichen Beziehung von
Religiosität und Säkularität in nach wie vor christlich grundierten Gesellschaften sollte eigentlich
noch einmal überarbeitet werden. Dazu ist es nach dem überraschenden Tod der Psychologin,
Pädagogin, Frauen- und Extremismusforscherin und Vordenkerin einer kritischen
Gesellschaftsanalyse im Jahr 2015 nicht mehr gekommen. Eingriffe in das bestehende Manuskript
wurden bei der Veröffentlichung weitestgehend vermieden.

Rommelspacher schlägt im ersten, Christliche Religiosität und kulturelles Erbe überschriebenen
Teil ihrer Studie vor, die Spaltung zwischen dem auch heute noch mit Nächstenliebe und Frieden
verbundenen (Ur-)Christentum und der mit Gewalt und der Durchsetzung der eigenen Macht
konnotierten Kirchengeschichte als Immunisierungsstrategie zu begreifen, „die ›hinter‹ aller
Realgeschichte ein wahres, reines und gutes Christentum verborgen weiß […]. Ein solches
Christentum wird dann auch gern als kulturelles Erbe angenommen […]. Die Identifikation mit dem
christlichen Erbe basiert […] wesentlich auf einer Idealisierung des Christentums. Die negativen
Anteile werden dabei abgespalten“ (Birgit Rommelspacher S.129 f.), so die theozentrische Moral,
die das individuelle Streben nach Erlösung höher einschätzt als das Wohlergehen der Menschen und
das Streben nach Macht und Exklusivismus.

Im zweiten Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaft überschriebenen Teil geht
sie der Frage nach, warum selbst sich als religiöse unmusikalisch verstehende Denker wie Jürgen
Habermas dem Christentum in der europäischen Kultur trotz der mit den Konfessionskriegen
einsetzenden Entkirchlichung, Verweltlichung und Entzauberung der Welt und der als
Freiheitsgeschichte begriffenen aufklärerischen Wende von der Theo- zur Anthropozentrik einen
zentralen Stellenwert in der Gesellschaft einräumen und die Säkularität christlich geprägt bleibt.
„Die Christlichkeit der säkularen Gesellschaftsbilder zeigt sich etwa darin, dass der Religion der
Bereich der Moral zugeschrieben wird, während die säkulare Gesellschaft als Ort der Unmoral, als
Quelle von Egoismus und Kaltherzigkeit vorgestellt wird. Deshalb wird dem Christentum eine
große Bedeutung in Bezug auf die Erhaltung der Werte und des Zusammenhalts dieser Gesellschaft
attestiert, auch von Menschen, die sich selbst nicht als religiös verstehen. Demgegenüber wird der
Atheismus von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung als eine Bedrohung
wahrgenommen.
Das Vertrauen in das Christentum als zentrales moralisches Agens muss jedoch alles Misstrauen
abspalten, das gegenüber den Kirchen und ihren Moralvorstellungen in großen Teilen der
Gesellschaft inzwischen vorherrscht […]. Die macht- und gewaltvolle Geschichte des Christentums
muss zum Fehltritt erklärt werden, der dem ›eigentlichen‹ Christentum als der Lehre von einer
Gesellschaft in Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit nichts anhaben kann. Schließlich muss diese
Einstellung eine Doppelmoral leugnen, die im Namen der Heilssorge andere verfolgt und vernichtet
oder im Namen hoher persönlicher Moralstandarts Verbrechen gegenüber anderen toleriert und
selbst durchführt […]. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen das bewusste/unbewusste
Einvernehmen mit der christlichen Tradition und die Delegation der Moral an das Christentum
haben“ (Birgit Rommelspacher S. 284 f.).

Im dritten, Christliche Dominanz in einer multireligiösen Gesellschaft überschriebenen Teil erörtert
Rommelspacher am Beispiel der christlichen Mission und des Umgangs mit dem Fremden ihre
Sicht der teils unbewusst, teils bewusst inszenierten christlichen Dominanz. Schon Martin Luther
habe in seiner Zeit den Ansturm der Türken als große Gefahr erlebt. „Die osmanische Expansion
war für ihn eine heilsgeschichtliche Bedrohung. Sie bedrohte nicht nur die physische Existenz,
sondern mit ihrer falschen Religion auch das Seelenheil aller. Insofern war die ›Türkengefahr‹ ein
wesentliches Thema der frühneuzeitlichen europäischen Christenheit. Dies Bedrohungsszenario ist
als Grundmuster der Beziehungen zwischen Christen und Muslimen in die christlich-europäische
Geschichtsschreibung eingegangen. Die Muslime werden in der Regel als Fremde und
Eindringlinge wahrgenommen. Das trifft zwar […] auf die Phase der osmanischen Eroberung ab
Mitte des 15. Jahrhunderts zu, bis diese 1529 vor Wien zum Stehen kam […]. Zuvor aber bot die
arabische Kultur die Grundlage für die Entwicklung der europäischen Kunst, Kultur und
Wissenschaft. Die Araber waren es, die im Mittelalter mit Philosophie, Mathematik und
Naturwissenschaften vertraut waren und sie den aufkommenden europäischen Gelehrten
vermittelten“ (Birgit Rommelspacher S. 340). Gleichwohl setzte sich die christliche Auffassung
vom Islam als gewalttätiger Religion entgegen der Realgeschichte und obwohl es kaum zu
Zwangsbekehrungen kam auch in der säkularen Geschichtsschreibung fest.

In der Folge kommt es unter anderem in der säkularen Debatte um die Emanzipation der
muslimischen Frauen zu einem kulturellen Bias, zu einer positiven Voreingenommenheit für die
christliche Sicht. Es könne aber keine Rede davon sein, „dass die modernen aufgeklärten
Europäerinnen das Thema Religion soweit überwunden hätten, dass sie nun in kritischer Distanz
sich allen gegenüber ein neutrales Urteil erlauben könnten. Sie seien bei aller Religionsdistanz
bewusst oder unbewusst in der Regel parteilich für das Christentum. Dieser kulturelle Bias, diese
positive Voreingenommenheit ist ein erwartbares Resultat einer jahrhundertealten christlichen
Geschichte. Sie ist aber auch Resultat einer starken Position der christlichen Kirchen in der heutigen
Gesellschaft. Diese scheinen im Zweifel immer noch vertrauenswürdiger zu sein als die Vertreter
aller anderen Religionsgemeinschaften. Auf dieser Basis ist eine multireligiöse und multikulturelle
Gesellschaft schwer zu errichten – zumindest solange nicht eine Deprivilegierung des Christentums
in Deutschland zum Thema gemacht wird“ (Birgit Rommelspacher S. 358 f.). Statt die
antimuslimische Stimmung in Deutschland kritisch zu korrigieren scheinen „die Führungen der
christlichen Kirchen […] diese“, so Rommelspacher, „eher noch zu verstärken. In diesem Fall wäre
der Ruf nach einer verstärkten Geltung christlicher Werte in der Gesellschaft der Ruf nach einer
Selbstbestätigung im Ressentiment.

Damit würden die christlichen Kirchen nicht zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen,
sondern eher zur Spaltung entlang religiös-kultureller Zugehörigkeiten. Der eigentliche
Machtanspruch kommt in der pauschalen Identifizierung von Tradition und Christentum, wie im
Fall der katholischen Kirche, und von politischer Kultur und Christentum, wie im Fall der
evangelischen Kirche, zum Ausdruck. Damit wird die gesamte europäische Tradition der
Kirchenkritik und kritischen Auseinandersetzung mit dem Christentum für gegenstandslos erklärt
und der Idealisierung des Christentums Tür und Tor geöffnet. Die Identifikation der westlichen
Kultur mit dem Christentum würde eine totalisierende Sichtweise unterstützten, die keinen Raum
mehr lässt für atheistische, areligiöse und andersreligiöse Positionen“ (Birgit Rommelspacher S.
376 f.).

In Ihrem Schlusskapitel plädiert Rommelspacher deshalb für die Rezeption postkolonialer,
befreiungstheologischer und feministischer theologischer Positionen und die Pluralisierung des
lateinischen Christentums. Dieser Rezeptionsprozess könnte zeigen, „dass die grundsätzliche
Spannung zwischen einem theologischen Wahrheitsanspruch und der kulturellen Eingebundenheit
von Religion nur durch den Verweis auf die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis zu ›lösen‹ ist.
Nach ihrem Verständnis ist die Offenbarung partikular, einmalig und unwiederholbar – universal ist
sie in dem Willen Gottes zur Gemeinschaft mit allen Menschen, das heißt, auch mit jenen, die
niemals in Kontakt mit dem Christentum kamen oder kommen werden. Pluralisierung des
Christentums ist also kein Selbstzweck, da es ebenso gilt, das Gemeinsame, das Übergreifende im
Blick zu behalten, das, was Christen auf aller Welt miteinander verbindet […]. Allerdings hat das
Christentum – wie jede andere Religion – auch die Möglichkeit, Pluralität als solche anzuerkennen
und sie als von Gott gewollte zu akzeptieren. Das lateinische Christentum hat jedoch in seiner
bisherigen Geschichte nicht allzu viel Gebrauch davon gemacht. Insofern führt heute der Weg zur
Pluralität nur über die Aufarbeitung eben dieser Geschichte und deren Integration in das eigene
Selbstverständnis, um Raum für Selbstrelativierung und Toleranz zu schaffen“ (Birgit
Rommelspacher S. 405 und 409).

Birgit Rommelspachers an Sigmund Freud, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und der
Kritischen Theorie der Frankfurter Schule geschulter analytischer Blick auf die verdeckten
Hintergründe des christlichen und kulturellen Erbes europäisch-westlicher Gesellschaften besticht
und kann zur Selbstaufklärung des Christentums und der sich säkular verstehenden Gesellschaft und
einem ehrlicheren Umgang mit den Schattenseiten der eigenen Tradition und Gegenwart verhelfen.
Dass Rommelspacher die konstruktiven Anteile ihrer dem Christentum unterstellten
Immunisierungsthese ebenso kennt wie die Schattenseiten ihres überwiegend freundlich und hell
gezeichneten Islambildes, wird schon daran deutlich, dass sie davon spricht, dass es „den Islam“
nicht gibt, sondern hunderte verschiedene Spielarten (vergleiche dazu etwa ihr Interview MiGAZIN
vom 2.2. 2015: http://www.migazin.de/2015/02/02/vor-10-20-jahren-war-der-begriff-rassismusverpoent-
heute-sprechen-wir-darueber/, abgerufen am 28.9,2017). Man darf annehmen, dass sie
auch die Koran-Suren studiert hat, die zum Kampf gegen Ungläubige aufrufen, und dass sie weiß,
dass ein Teil der Muslime versucht ist, Gewalt religiös zu rechtfertigen. Es dürfte ihr auch nicht
verborgen geblieben sein, dass die Türkisch-Islamische Union für Religion e.V, die die religiösen,
sozialen und kulturellen Tätigkeiten der ihr angeschlossenen türkisch-islamischen
Moscheengemeinden deutschlandweit koordiniert, der dauerhaften Leitung, Kontrolle und Aufsicht
des staatlichen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten der Türkei unterstellt ist und deshalb
staatskirchenrechtlich nicht mit den christlichen Kirchen in Deutschland verglichen werden kann.

Schließlich wäre zu klären, ob die von Rommelspacher in der Kirchen- und
Christentumsgeschichte angenommene und mit Spaltungen verbundene Idealisierung des
(Ur-)Christentums einer detaillierten historischen Verifizierung standhält und zu fragen, ob ihre
Annahme herkömmliche Christentumstheorien ergänzen oder ablösen und ersetzen soll.

Ihre überwiegend funktionale Sicht der Religion mag man teilen. Aber man sollte dann auch
anerkennen, dass gelebter Glaube andere Seiten der Religion kennt, pflegt und für wichtig hält.
Nicht zuletzt dürfte es Rommelspacher aufgefallen sein, dass die von ihr geforderte
Selbstaufklärung des Christentums in den letzten drei, vier, fünf Jahrzehnten zumindest in der
liberalen theologischen Diskussion und im wissenschaftlich verantworteten Glauben längstens
geleistet worden ist und dass man dort die postkolonialen und feministischen Theologien in aller
Selbstverständlichkeit rezipiert hat. Deshalb ist anzunehmen, dass sie ihr Manuskript bei der von ihr
beabsichtigten Überarbeitung an den fraglichen Stellen ebenso umgearbeitet und korrigiert hätte
wie die Zuschreibung des Zitats „›Weil der Mensch als sittliches Wesen Repräsentation des
Absoluten ist, darum und nur darum kommt ihm das zu, was wir menschliche Würde nennen‹“ (T.
Stein, zitiert nach Birgit Rommelspacher S. 248) an den Theologen Spaemann. Der katholisch
erzogene und heute im hohen Alter in Stuttgart lebende große Konservative Robert Spaemann hat
zwar neben Philosophie, Geschichte und Romanistik auch Theologie studiert. Aber er versteht sich
nicht als Theologe, sondern als Philosoph und war bis zu seinem Ruhestand im Jahr 1992
ordentlicher Professor für Philosophie an den Universitäten Stuttgart, Heidelberg und München.

ham, 28. September 2017

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