Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung

C.H. Beck Verlag München, 2019, ISBN 978-3-406-72708-5, 512 Seiten, 54 Abbildungen,
6 Tabellen und 9 Karten, Hardcover in Leinen, gebunden mit Lesebändchen, Format 22 x 14,5 cm,
€ 32,00 (D) / € 32,90 (A)

Wer zwischen 1935 und 1955 geboren wurde und das Morden, Brandschatzen und die Vergewaltigungen des Zweiten Weltkriegs real oder rudimentär mit- oder bei den Erzählungen seiner Eltern mental nacherlebt hat, wird den Krieg wie die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen Jahr im 1948 ächten („Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“), wie Franz Josef Strauß im Jahr 1949 („Wer noch einmal das Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen.“) als machtpolitisches Gestaltungsmittel außer Kraft setzten oder wie der Politologe Herfried Münkler daran erinnern wollen, dass zum politischen Grundkonsens der Bundesrepublik die feste Überzeugung gehört, dass sich aus Kriegen nichts lernen lässt „– außer dass man sich besser von Anfang an nicht darauf eingelassen oder eine aktive Politik der Kriegsverhinderung betrieben hätte“ (Die Zeit Nr. 6 vom 31.01.2019 S. 42).

Deshalb verstört das Fragezeichen, das der renommierte emeritierte Tübinger Historiker Dietrich Langewiesche über das Schlusskapitel seiner materialreichen und schon deshalb schwer angreifbaren Abhandlung über die Motive der europäischen Kriege in der Moderne setzt: „Europa als nationalpolitisches Laboratorium in der Gegenwart – Die Europäische Union als Ende des Europas der Kriege?“ (Dietrich Langewiesche S. 411): Nach Langewiesche sind Europas Nationen und Nationalstaaten in „Kriegen entstanden“ und sie haben sich in Kriegen behauptet. „Ohne Krieg keine Nation, ohne Krieg kein Nationalstaat. Kriege haben im 19. Jahrhundert die Europäisierung der Welt, Europas globale Dominanz ermöglicht, Kriege haben sie im 20. Jahrhundert beendet. Ohne Krieg kein Kolonialreich, ohne Krieg keine Dekolonisierung. Und heute: Ächtung des Krieges durch die Vereinten Nationen außer zur Selbstverteidigung, doch Krieg als letztes Mittel ›humanitärer Interventionen‹, um Menschheitsverbrechen zu verhindern oder zu beenden. Oder – Krieg gegen den Terrorismus. Die Geschichte des Krieges als Mittel zum Zweck, der für gut gehalten wird, geht weiter. Auch der Krieg, um den eigenen Staat zu erzwingen“ (Dieter Langwiesche S. 11 f.). Wenn aber der Krieg als Mittel zum Zweck des Fortschritts und der größeren Freiheit weitergeht, fragt man sich, wie das Fragezeichen hinter „Die Europäische Union als Ende des Europas der Kriege?“ gedeutet werden soll. Meint es, dass der Krieg als „gewalttätiger Lehrer“ in der Europäischen Union auf Dauer und „ein für alle Male in den Ruhestand versetzt wurde“ oder handelt es sich „nur um eine kurzfristige Unterbrechung seiner Lehrtätigkeit? Langewiesche lässt das offen“ (Herfried Münkler a. a. O.).

Nach James Sheehan ist die Überwindung des Krieges in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kein globales, sondern ein europäisches Phänomen, eine Art europäischer Sonderweg in einem „Sicherheitsraum, den die Supermächte USA und Sowjetunion nach 1945 in Europa schufen. Kalter Krieg als Schutz vor der Versuchung zu erneuten heißen Kriegen“ (Dieter Langewiesche S. 412). Mit dem Ende der Sowjetunion ist der Krieg in den Jugoslawischen Sezessionskriegen auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt; 2014 folgte der Krieg in der Ukraine und der politische, teilweise bewaffnete Konflikt um die Halbinsel Krim. Am 1. Februar 2019 kündigt die USA die INF-Verträge auf, die bilateralen Verträge zwischen der Sowjetunion und den USA über die Vernichtung aller landgestützten Flugkörper mit kürzeren und mittleren Reichweite von 500 bis 5500 km, die atomare Sprengköpfe tragen können. Am 2. Februar erklärte Putin, dass sich auch Russland nicht mehr an die Verträge gebunden sieht. Damit steht die NATO vor der Frage, ob sie den Nato-Doppelbeschluss von 1979 wiederaufleben lassen oder ob sie neue Formen der Verteidigung erfinden soll. Völlig offen ist, ob die Friedensbewegung noch die Kraft hätte, Menschen wie 1983 zu Massenprotesten gegen den atomaren Rüstungswettlauf zu motivieren: Am 22. Oktober 1983 haben bundesweit rund 1,3 Millionen Menschen gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Mitteleuropa demonstriert. Allein in Bonn gingen eine halbe Million Menschen auf die Straße.

Nach Langewiesche ist in Europa „die Idee Nation als Freiheitsvision entstanden und erprobt worden“. In Europa ist aber auch „das Aggressionspotential, das die Nation als Machtvision freisetzen kann, bis ins Extrem der Vernichtungspolitik gesteigert worden. Von Europa aus sind alle Formen des Kolonialismus und Imperialismus ausgegangen. Das heutige Europa ist erneut ein Laboratorium geworden, nun für neue Formen der supranationalen und suprastaatlichen Kooperation und Vereinigung, auch der ›Transnationalisierung der Demokratie‹. Dieses Experiment könnte, falls es gelingt, Europas weltgeschichtlich bedeutsamer Beitrag sein zur Zähmung seines eigenen Erfolgsmodells Nationalstaat […]. Die Bereitschaft zum Krieg, um Nationalstaaten als demokratische Zukunftshoffnung zu schaffen, gehört zum europäischen Erbe, das mit dem Nationalstaat weitergegeben wurde und wird. Auch in Europa. Zuletzt im ehemaligen Jugoslawien […]. Einen Nationalstaat zu gründen und seine Existenz zu sichern, heißt in aller Regel, Krieg als politisches Mittel zu bejahen und auch einzusetzen. Das war und ist eine Hauptlinie seiner Geschichte, ausgehend von Europa.

Mit dieser Tradition von Staatenbildung und nationaler Staatlichkeit sucht die Europäische Union zu brechen […]. Die Geschichte des Europas der Kriege beenden zu wollen […] ist eine fundamentale politische Entscheidung gegen die Geschichte“ (Dietrich Langewiesche S. 416 ff.). Es ist zu hoffen, dass dieser Neuanfang gelingt.

ham, 1. März 2019

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