Dez 13

Kösel-Verlag, München 2020, ISBN: 978-3-466-37256-0, 109 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 19,2 x 12,3 cm, € 14,00 / € 14,40 / CHF 20,50 

Die Europäische Union verfolgt nach ihrer am 7. Dezember 2000  in Nizza unterzeichneten Charta der Grundrechte und dem Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 folgende Ziele:

  • Förderung des Friedens, der europäischen Werte und des Wohlergehens ihrer Bürgerinnen und Bürger,
  • Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit ohne Binnengrenzen,
  • nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage von ausgeglichenem Wirtschaftswachstum und Preisstabilität, einer wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft bei Vollbeschäftigung, sozialem Fortschritt und Schutz der Umwelt,
  • Eindämmung sozialer Ungerechtigkeit und Diskriminierung,
  • Förderung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts,
  • Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts und Solidarität zwischen den Mitgliedsländern,
  • Achtung ihrer reichen kulturellen und sprachlichen Vielfalt,
  • Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.

Alle EU-Mitgliedsstaaten teilen die Werte der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichstellung, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte und streben eine Gesellschaft an, in der Inklusion, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung selbstverständlich sind (vergleiche dazu https://europa.eu/european-union/about-eu/eu-in-brief_de).

Wenn der 1948 in München geborene und derzeit an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin lehrende Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas hinter seinen Titel ›Friedensprojekt Europa?‹ ein Fragezeichen setzt, fragt er, ob und wie der seit 70 Jahren stabile Friede im westlichen Europa trotz der derzeit verstärkt propagierten nationalstaatlichen Interessen und des lauter werdenden Rufs nach einer gemeinsamen Verteidigungs-, Sicherheits- und einer damit einhergehenden Großmachtpolitik erhalten werden kann. Unter Imperialismus kann mit dem Globalhistoriker Jürgen Osterhammel (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Jürgen_Osterhammel) „›ein großräumiger hierarchisch geordneter Herrschaftsverband polyethnischen und multireligiösen Charakters“ verstanden werden, „dessen Kohärenz durch Gewaltandrohung, Verwaltung, indigene Kollaboration sowie die universalistische Programmatik und Symbolik einer imperialen Elite […] gewährleistetet wird …‹“ (Jürgen Osterhammel nach Hans Joas S. 33).

Der Blick unter anderem auf die USA zeigt, dass innerstaatlich hoch gehaltene Friedensideale und großmachtpolitische Interessen durchaus unter einem Hut Platz finden. Könnte Europa in einer post-Hobbesschen Ordnung aber nicht doch zu einer anderen Art von globalem Akteur ohne militaristische Denktraditionen und Handlungsweisen werden?

Bei dem deutschen Sozialhistoriker Otto Hintze (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Hintze) kann man nach Joas lernen, dass föderalistische Elemente, wie sie im Völkerbund wirksam geworden sind, Imperien zwar zähmen und zu Friedensordnungen machen können. Aber der „›föderale‹ oder ›föderalistische‹ Imperialismus“, den Hintze 1928 in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verortet und den Joas mit ›postnationalen‹ Imperialismus übersetzt (Hans Joas S. 32),  zwingt zur Frage, „ob tatsächlich eine Schwächung der Nationalstaaten und eine Reduzierung des Nationalismus einhergehen kann mit der Entstehung einer neuen Form des Imperialismus“ (Hans Joas S. 34).

Joas antwortet mit Ja, wenn der Bezugspunkt weder Nationalismus noch eine Föderation von Staaten ist. „Der normative Bezugspunkt muss … für moralische Universalisten, ob für Aufklärer oder Christen oder andere, selbstverständlich jenseits des Nationalstaats, aber auch jenseits einer spezifischen Föderation von Staaten liegen. Er muss die ganz Menschheit sein, die heutige Menschheit, aber auch die künftigen, noch gar nicht geborenen Generationen … Supranationale Gebilde sind nicht per se normativ den Nationalstaaten vorzuziehen. Föderationen können zwar normativ vorzuziehen sein. Aber nicht jede Föderation ist demokratisch; nicht jede entspricht auch in ihren Außenbeziehungen den Idealen, mit denen sie sich rechtfertigt … Eine vorbehaltlos Identifikation mit »Europa« müsste sich für moralische Universalisten verbieten. Wie in anderen Politikfeldern auch kann Europa als solches nicht der höchste Wert auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik sein. Höchste Werte sind für mich Demokratie, Wohlfahrtsstaat, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Frieden. Wenn Schritte zu stärkerer europäischer Integration diesen Werten dienen, halte ich sie für gerechtfertigt. Wenn nicht, dann nicht“ (Hans Joas S. 92 ff.).

Damit kommen Grundüberzeugungen und Werte zur Geltung, die Dietrich Bonhoeffer 1934 in seinem Aufruf zu einem Friedenskonzil auf der Fanö-Konferenz formuliert und die der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) 1983 in Vancouver in seiner Einladung zu einem konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Konziliarer_Prozess) für maßgeblich erklärt hat: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muß gewagt werden … Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheit fordern heiß Mißtrauen haben, und dieses Mißtrauen gebiert wiederum Krieg. Sicherheiten suchen heißt sich selber schützen wollen. Frieden heißt sich gänzlich ausliefern dem Gebot Gottes, keine Sicherung wollen, sondern in Glaube und Gehorsam dem allmächtigen Gott die Geschichte der Völker in die Hand legen und nicht selbstsüchtig über sie verfügen wollen. Kämpfe werden nicht mit Waffen gewonnen, sondern mit Gott“ (Dietrich Bonhoeffer 1934 auf der Fanö-Konferenz. In: http://www.dietrich-bonhoeffer-verein.de/dietrich-bonhoeffer/bonhoeffers-friedensverstaendnis/).

ham, 12. Dezember 2020

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