Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Karlsruher Institut für Technologie / Deutscher Kunstverlag Berlin.München – Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston, 2019, ISBN: 978-3-422-97982-6, 320 Seiten, über 200 s/w und farbige Abbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 30,5 x 24,5 cm, € 29,90 (D)

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk des Malers, Zeichners und Druckgrafikers Hans Baldung Grien ist seit seiner letzten und bisher weltweit einzigen großen Ausstellung vor 60 Jahren in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe deutlich vielseitiger geworden. Neue Perspektiven sind unter anderem in Dissertationen von Georg Bussmann zum manieristischen Spätwerk (1966), von Linda Hults Boudreau zum Verhältnis von Baldung und Dürer (1978), von Sibylle Weber am Bach zu den Marienbildern (2006), von Sabine Söll-Tauchert zur Selbstinszenierung des Künstlers (2010) und jüngst von Julia Carrasco zu den Darstellungen des Sündenfalls (2019) deutlich geworden. Dazu kamen die Präsentation der Zeichnungen und Druckgrafik in der National Gallery of Art, Washington (1981), die Ausstellung zur Freiburger Schaffenszeit im Augustinermuseum Freiburg i. Br. (2001) und die um das Frankfurter Hexengemälde konzipierte Schau ›Hexenlust und Sündenfall‹ im Städel-Museum (2007). Schließlich wurden Hans Baldung Griens Arbeiten ›Lot und seine Töchter‹ (um 1535/40) neu- und seine wohl 1522 entstandene ›Steinigung des heiligen Stephanus‹ wiederentdeckt. Dass Baldungs Kunst wieder verstärkt in den Blick der universitären und musealen Forschung gekommen ist, hat zum einen die von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und dem Karlsruher Institut für Technologie verantwortete internationale Baldung-Tagung vom 18. bis  20. Oktober 2018 als auch die Baldung-Retrospektive ›Hans Baldung Grien, heilig unheilig‹ vom 30. November 2019 bis 8. März 2020 in Karlsruhe inspiriert. Der überwiegende Teil der 25 in dem angezeigten Band versammelten Beiträge verdankt sich der genannten Tagung. Eine Reihe von Aufsätzen kam nachträglich hinzu.

Nach Holger Jacob-Friesen und Oliver Jehle entsteht das ›Faszinosum Baldung‹ „aus dem fortwährenden Versuch, sein Werk Verstehen zu wollen. Baldung kommuniziert mit seinem Publikum – auch und vor allem“ in seinem Selbstbildnis von 1501, 1502 oder 1503, „wobei der markant schräge Blick seine Absichten nie recht verrät. Zudem schweigt er in diesen Darstellungen, und schweigend bietet er sich der Aufmerksamkeit dar. Der semiotische Blick aber gleitet an ihm ab und wird immer neu auf das zurückverwiesen, was nur zu sehen ist. Deshalb muss nach dem Status seiner Werke an der Epochenschwelle von Spätgotik und Renaissance gefragt werden, mithin nach dem komplexen Zusammenspiel von theoretischer Reflexion und künstlerischem Praxiswissen, das Baldungs Kunst prägt. Die Aufsätze dieses Bandes widmen sich diesen Ansätzen mit Blick auf die unterschiedlichen Medien, Gattungen, Werkphasen, künstlerische Einflüsse und Aneignungen sowie (auf die) thematisch-inhaltliche(n), entwicklungshistorische(n) und diskursive(n) Aspekte“ (Holger Jacob-Friesen und Oliver Jehle, S. 14 f.).

Der Band setzt ein mit einem Überblick über die Etappen der Baldung-Rezeption (Holger Jacob-Friesen und Oliver Jehle), der auch an Pablo Picassos Kompositionsstudie für Guernica vom 1. Mai 1937 (vergleiche dazu https://artinwords.de/picasso-guernica/) erinnert. Bei Picasso mutiert Baldungs Pferd aus seinem Holzschnitt ›Der behexte Stallknecht‹ zum Stier und der leblose Stallknecht mit seiner Heugabel zum toten Krieger mit einem Speer (vergleiche dazu https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Hans-Baldung/Der-behexte-Stallknecht/06F807909FF440468AA7571C89760B5A/). Der derzeit als Victor S. Thomas Professor für Kunst- und Architekturgeschichte in Harvard lehrende Joseph Leo Koerner setzt sich unter anderem mit Baldungs Clair-Obscur-Holzschnitt mit Tonplatte in Graubraun ›Der Sündenfall‹ von 1511 (vergleiche dazu https://www.akg-images.de/archive/Der-Sundenfall-2UMDHUTLIF9Y.html#/SearchResult&ITEMID=2UMDHUTLIF9Y&POPUPPN=1&POPUPIID=2UMDHUTLIF9Y) auseinander. Und der Historiker Casimir Bumiller, Freiburg versucht, Licht in die immer noch unklare Herkunft Baldungs zu bringen: 

Demnach ist sicher, dass der Maler Hans Baldung Grien einer reich verzweigten Gelehrtenfamilie aus Schwäbisch Gmünd entstammt, dort mutmaßlich 1484 oder 1485 geboren ist, als einziges Mitglied der Akademikerfamilie den Künstlerberuf ergriff, möglicherweise zwischen 1503 und 1508 in der Werkstatt von Albrecht Dürer mitgearbeitet hat und 1509 das Stadtrecht in Straßburg erhielt. Das Hochaltar-Retabel des Freiburger Münsters, sein malerisches Hauptwerk, entstand zwischen 1512 und 1516 (vergleiche dazu etwa http://www.muenster-fuer-kinder.de/index.php?id=26 und https://www.muensterfabrikfonds.de/html/content/der_hochaltar.html). Von 1517 bis zu seinem Tod im Jahr 1545 war Hans Baldung Grien wieder in Straßburg tätig. Wenn man Bumiller folgt, könnten der Arzt Hieronymus und der Prokurator Hans Baldung Onkel der Brüder Caspar und Hans Baldung gewesen sein. Der dritte Bruder von Hans und Hieronymus könnte der Vater des Juristen Caspar und des Malers Hans gewesen sein. „Irritierend ist nur, dass diese dritte Person ohne weitere archivarische Nachweise so schemenhaft bleibt. Auch was Beruf und Bildungsgrad des namenlosen Vaters angeht, bleiben wir vorläufig vollkommen im Ungewissen, es sei denn man wolle jenen Kleriker Ambrosius Baldung ins Spiel bringen, der 1527 auf das Pfarrrektorat von Behlenheim bei Straßburg verzichtete […]. Der Name Ambrosius ist in der Familie […] nicht völlig fremd, denn um 1540/53 gab es […] einen Kaplan Ambros Baldung in Gmünd. Wollte man den Pfarrer Ambrosius ernsthaft als Vater von Caspar und Hans Baldung in Anschlag bringen, so wären die beiden legitimierte Priesterkinder gewesen, was am Ausgang des Mittelalters […] nicht ungewöhnlich war“ (Casimir Bumiller S. 41). 

Mit dem lange erwogenen und für wahrscheinlich gehaltenen Lehrer-Schüler-Verhältnis von Dürer und Grien, mit Hans Baldung Griens Mitwirken in der Werkstatt von Veit Hirsvogel d. Ä. und mit seinem Verhältnis zu Grünewald beschäftigen sich Daniel Hess, Hartmut Scholz und Michael Roth. Nach dem Schweizer Kunsthistoriker und Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums Hess gibt es bisher keine gesicherten Hinweise auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Cranach und Grien, dafür aber überprüfbare Hinweise auf seine Mitarbeit in der Nürnberger Hirsvogel-Werkstatt. Dafür sprechen nach Scholz unter anderem auch Baldungs in der Werkstatt von Hirsvogel angefertigten Glasfenster ›Verkündigung an Maria‹, seine ›Geburt Christi‹ aus dem Löffelholzfenster in St. Lorenz von 1506 (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=l%C3%B6ffelholz+fenster&tbm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwiF5_aIw6vmAhUMO8AKHQ8UC24QsAR6BAgJEAE&biw=

1677&bih=916) und sein für das Karmeliterkloster in Nürnberg entworfenes Fenster ›Christus und die Ehebrecherin‹ von 1507, das sich jetzt in der Pfarrkirche von Großgründlach  befindet (vergleiche dazu https://kunstbeziehung.goldecker.de/work.php?sd%5BwCode%5D=5c9bb04d653c5). Der Kunsthistoriker Michael Roth geht dagegen nach wie vor von einem erheblichen Einfluss der frühen Arbeiten Dürers auf Baldung aus. „Demgegenüber sind direkte Kontakte zwischen Baldung und Grünewald während ihrer mutmaßlich gemeinsamen Nürnberger Phase der Jahre um 1503 bislang nicht konkret greifbar geworden“ (Michael Roth S. 78). 

Weitere Aufsätze beschäftigen sich mit den Hexenwelten des Spätmittelalters am Oberrhein, mit Hans Baldung Griens Hexen, alten Vetteln, alten Weibern und Drachen (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=hans+baldung+grien+hexensabbat&tbm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwjwxeis5avmAhWNi1wKHbM4CFsQsAR6BAgKEAE

&biw=1677&bih=916), seinem Rückgriff auf byzantinisches Bildgut in seinen Freiburger Jahren, seinen Porträts (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1677&bih=916&tbm=isch&sa=1&ei=0O7vXdn7L9aR8gKsh42QDg&q=hans+baldung++Griens+Portr%C3%A4ts&oq=hans+baldung

++Griens+Portr%C3%A4ts&gs_l=img.12…73764.84852..86491…0.0..0.76.1201.19……0….1..gws-wiz-img…….0j0i67j0i19j0i8i30i19j0i8i30.0ED0Jeph8jw&ved=0ahUKEwjZo6Wu5avmAhXWiFwKHaxDA-IQ4dUDCAY) und mit der Privatisierung des Bildes im Spätwerk des Künstlers.

Die als Große Landesausstellung Baden Württemberg konzipierte erste Baldung-Retrospektive seit sechs Jahrzehnten ›Hans Baldung Grien, heilig ⎜unheilig‹ präsentiert insgesamt 250 Werke, darunter eine Vielzahl internationaler Leihgaben. 80 Werke, sowohl Gemälde als auch Arbeiten auf Papier stammen aus der Kunsthalle Karlsruhe.

ham, 12. Dezember 2019

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller