Werkverzeichnis der 2011 – 2017 entstandenen Gemälde und Papierarbeiten, herausgegeben von Christian
Malycha und Inci Yilmaz mit Texten von Christian Malycha, Clemens Rathe und Inci Yilmaz
aus Anlass der gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Reutlingen vom 17. September bis 5. November
2017

Kunstverein Reutlingen / Vfmk Verlag für moderne Kunst Wien, 2018, ISBN 978-3-903228-63-4, 192 Seiten
161 Abbildungen, Paperback in transparentem PVC-Umschlag, Format 30 x 24 cm, € 28,00

Kleinkinder beginnen ab 12, 13 Monaten zu kritzeln, wenn man ihnen einen Stift oder eine Wachsmalkreide
in die Hand gibt. Fünf- bis Sechsjährige erfinden Sinnzeichen und setzen sie in Beziehung zueinander. Beim
Telefonieren, in Sitzungen oder Vorlesungen ohne Bedeutungsabsicht entstehende Kritzelzeichnungen
helfen, sich besser zu konzentrieren. Sie entstehen teilbewusst, ähneln Tagträumen und lassen Rückschlüsse
auf das Unbewusste zu. Telefonzeichnungen von Dieter Roth, Alfonso Hüppi und Franz Eggenschwiler sind
in die Kunstgeschichte eingegangen. Ein umfangreiches Konvolut der kleinformatigen Telefonzeichnungen
des gebürtigen Solothurners Eggenschwiler ist im dortigen Kunstmuseum zu finden (vergleiche dazu http://
www.kunstmuseum-so.ch/franz-eggenschwiler-prazises-wolkenbild).

Jana Schröders ›Spontacts‹ genannte spontan mit Kopierstift und Öl auf Papier und Leinwand gebrachten
gestischen Bildakte unterscheiden sich schon durch ihre Größe: Die ›Spontacts‹ sind nicht wie bei
Eggenschwilers Telefonzeichnungen um 14 x 10,5 cm, sondern zwischen 150 x 110 cm und 240 x 200 cm
groß. Zusammen mit ihren in unzähligen Schichten und Überlagerungen aus ausgehärtetem Farbmaterial
entstehenden ›Kinkrustations‹ (vergleiche dazu https://vfmk.org/de/shop/jana-schroeder) hinterfragen sie
„die Eignung der malerischen Geste und des reinen Bildauftrags als Bildgegenstand.

Schröder thematisiert in ihren Werken immer wieder die Legitimation einer zeitgenössischen Malerei,
die sich eben nicht nur durch die >Attitüde des Weglassens< fast referenzlos zeigt, sondern die durch das Prinzip der Überlagerung von gestischem Farbauftrag das Abbild des Malaktes an sich rechtfertigt, gerade weil seine Referenz und nicht nur er selbst den Bildgegenstand ergeben. Unverkennbar greift Schröder hierfür auf den ästhetischen Gehalt von Handschrift und alltäglichem Gekritzel zurück, dem formal etwas zukommt, wonach sich der gestische Farbauftrag geradezu sehnt: spontane, beiläufige und selbstverständliche Originalität. Durch die freie Übertragung von Initialen, Signaturen, Kürzeln und Kringeln mit Ölfarbe auf die großformatige Leinwand wird der intuitive Automatismus der Linie entschleunigt, um allein ihre Form fragmentarisch isoliert darzustellen. In Schröders abstrakter Malerei ist also nicht nur die malerische Geste selbst das Sujet, sondern viel eher das, was sie außerhalb des Malereikontextes hervorbringen kann“ (Inci Yilmaz S. 173). Für Christian Malycha überschreiben sich Schröders skripturale Aufzeichnungen, ihre ›Schrift‹ selbst zur Geste hin. „Aus Text wird Textur […]. Es sind >Schriftbilder<, in denen Schröder fortwährend die Grenzen von gegenständlicher Lesbarkeit und ungebundener malerischer Entfaltung überschreitet […]. Jeder Strich, jede Geste entfaltet sich mit eigener Geschwindigkeit und Dauer […]. Ihre aus der Handschrift entwickelten Gesten sind expressiv und gleichsam konzeptionell gefasst. Sie greifen aus und nehmen sich wieder zurück […]. Ausdruck und Struktur sind untrennbar ineinander verschränkt […]. Wenn die Bewegung an sich eine zeitliche ist, ihre physische Erscheinung aber räumlich, durchdringen sich auf dem Bild beide Sphären […]. Ihre vielfach >umschreibenden< Gesten des Kopierstifts […] zeigen in Fülle und Leere nichts außer sich selbst. Einzig verbunden von wenigen, breiten Bändern in Öl, die den Bewegungen der feinen blauen Striche nachspüren und aus ihnen auf jedem Bild eine Art >lyrische Summe< bilden […]. Gegenüber der delikaten Weite der nahezu entstofflichten ›Spontacts‹ ist Jana Schröders monumentalen ›Kinkrustations‹ eine enorme materielle Verdichtung eigen […]. In dieser Polarität von Offen- und Geschlossenheit, Bewegung und Statik, Gedanke und Gefühl, Ausbruch und Ordnung vermisst […] Schröder die vergänglichen Spuren menschlicher Anwesenheit“ (Christian Malycha S. 165 ff.). ham, 8. August 2018 Download

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