Walter de Gruyter-Verlag, Berlin / Boston 2020, ISBN: 978-3-11-067111-7, 245 Seiten, 68 farbig Abbildungen, Klappenbboschur, Format 24 x 17 cm, € 49,95

Der 1954 geborene Thomas Schütte (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Schütte) ist  nach Ausstellungen mit der Künstlergruppe der ›Düsseldorfer Modellbauer‹ und Ausstellungsbeteiligungen unter anderem an der Ausstellung ›Von Hier aus‹ 1984 in Düsseldorf, an der ›documenta‹ 1987,1992 1997  in Kassel und am ›Skulptur.Projekte‹ 1987 in Münster international bekannt geworden. Wie seine Frauenplastiken beziehen sich auch seine Architekturmodelle (vergleiche dazu https://www.kunstmuseum-wolfsburg.de/sammlung/thomas-schuette/architekturmodelle-1980-2006/ , https://www.kunstmuseum-wolfsburg.de/sammlung/thomas-schuette/architekturmodelle-1980-2006/ und http://www.thomas-schuette.de/ajax.php#/2.01.34) weniger auf konkret geplante Bauten als auf Gestaltungstypologien (vergleiche dazu Kristin Schmidt im Kunstbulletin 9/2019: https://www.artlog.net/de/kunstbulletin-9-2019/thomas-schutte-frauen-manner-und-modelle). Von seinen Architekturmodellen umgesetzt wurde unter anderem sein Modell für seine ›Skulpturenhalle‹ in Neuss (vergleiche dazu http://www.thomas-schuette.de/ajax.php#/2.01.47 und https://thomas-schuette-stiftung.de) und sein Modell für ein ›One Man House‹ (http://www.thomas-schuette.de/ajax.php#/2.01.66) auf der Spitze der Neckarinsel in Heilbronn (vergleiche dazu http://www.thomas-schuette.de/ajax.php#/2.01.66). Andere Modelle bleiben „Gedankenbilder aus eigenem Recht“ (Julian Heinen; vergleiche dazu https://www.deutschlandfunkkultur.de/bildhauer-in-neuss-thomas-schuette-hat-sich-sein-eigenes.2156.de.html?dram:article_id=350930).

Publikationen zur Person und zum Werk von Schütte sind bisher vor allem im Kontext seiner umfangreichen Ausstellungstätigkeit entstanden. Seine Werkgruppe der ›Frauen‹ wird jetzt durch die an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entstandene und mit dem renommierten Paul-Clemen-Preis des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) ausgezeichnete Dissertation von Linda Walther erstmals wissenschaftlich erschlossen. Walther geht von der Frage aus, wie und warum Thomas Schütte mit seiner Werkgruppe der 90 in den Jahren1998 bis 2006 in Stahl, Bronze und Aluminium gegossenen überlebensgroßen ›Frauen‹ die klassische Bildhauerei und das Sujet des weiblichen Aktes wiederbeleben konnte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien die klassische Bildhauerei durch die Herausbildung neuer Tendenzen und künstlerischer Praktiken wie Happening, Performance, Environment, Installations- und Konzeptkunst, Minimal-Art und Neoexpressionismus festgefahren und zunehmend marginalisiert. Gleichzeitig musste der nackte weibliche Körper für alles nur Denkbare von den „Symbolen und Metaphern über formale Experimente bis zur Masturbation“ herhalten (Linda Walther S. 181). So ist Barbara Heinisch ab 1975 durch Porträts von hinter Leinwänden agierenden nackten Tänzerinnen bekannt geworden, die am Höhe- und Schlusspunkt der Transformances durch einen Riss in der Leinwand vor das Publikum traten (vergleiche dazu https://www.barbara-heinisch.de/videos/index.html). Und Elke Silvia Krystufek hat ihre anfängliche Bekanntheit noch gesteigert, als sie 1994 bei ihrer Performance ›Satisfaction‹ in der Kunsthalle Wien im Setting eines Badezimmers masturbiert und anschließend ein beruhigendes Bad genommen hat (http://www.vaginamuseum.at/KUNSTundKULTUR/zeitgenoessischekunst-elkekrystofek).

Walther geht davon aus, dass das grundlegende Prinzip des ›In-der-Schwebe-Haltens‹ „es dem Künstler ermöglicht hat, das klassische Sujet im klassischen Material zu bearbeiten. Gemeint ist eine künstlerische Strategie, die Schüttes gesamten Œuvre inhärent ist, an zentralen Stellen produktiv wird und Freiräume schafft. Im Fall der ›Frauen‹ – so die zu überprüfende These – bewahrt sie die Figuren davor, zu den klassischen, idealen, gültigen Kunstwerken zu werden, die sie auf den ersten Blick z. B. großformatiger liegender Frauenakt in Bronze – zu sein scheinen …(Linda Walther S. 8; vergleiche dazu http://www.thomas-schuette.de/ajax.php#/search/2.08.10/Frauen). Die Benennung dieses Konzepts geht auf ein 1994 publiziertes Interview von Matthias Winzen mit Thomas Schütte zurück, in dem er sagte: ›Dagegen ist so etwas wie Leichtigkeit ein Grundbedürfnis von mir, also Dinge in der Schwebe halten.‹ Dieser Gedanke entwickelt sich bereits in seinen frühen Arbeiten … Der Künstler beschäftigte sich in den 1970er und -80er Jahren – wie einige seiner Weggefährten … – mit dem Status und der Funktion von Kunst. Sie hinterfragen den autonomen, subjektiven, definitiven Charakter von Kunstwerken und arbeiten an einer Kunst, die nicht länger unter dem (modernen) Diktat der Autonomie steht. Dekorative, narrative und figurative Aspekte werden wieder zugelassen und die Vorstellung eines abgeschlossenen Einzelwerks wird infrage gegellt und als eine veränderbare Möglichkeit von viel ausgehöhlt“ (Linda Walther S. 8 f.)

Bereits auf der Ebene der Herstellung „verhandeln die ›Frauen‹ Praktiken klassischer Bildhauerei in der Kombination mit Strukturen, Strategien und Elementen verschiedener Arbeitskontexte zu mehrfachkodierten Prozessen der Produktion“ (Linda Walther S. 181). Am Anfang steht das in klar strukturierte Arbeitsprozesse eingebundene Modellieren, Glasieren, Brennen und Präsentieren von etwa 7 bis 10 cm hohen Frauenfiguren auf etwa 30 mal 20 cm breiten Tonsockeln (vergleiche dazu http://thomas-schuette.de/main.php?kat=2.02.08.001), aus denen Schütte nach dem Abschluss der Serie 18 Figuren auswählt, sie vergrößern, in Gips abformen und in Stahl, Bronze und Aluminium gießen lässt.

Dieser Umwandlungsprozess hin zur Großskulptur und ihre Ausdifferenzierung und Multiplikation in unterschiedlichen Materialien „erscheint als zentrale Strategie, denn die ›Frauen‹ entstehen erst durch ihre physisch-materielle Herstellung. Im und durch den Prozess wird ein Formenrepertoire geschaffen, das sich die eigenen Ergebnisse immer wieder einverleibt. Material wird zur Form, diese Form wird wieder zum Material, das zur Form wird, die wiederum übersetzt wird und so weiter. Diese zahlreichen Transformationsprozesse verwischen nicht nur die Grenzen zwischen Form und Material, sondern sie konstruieren die Figuren aus auf ihrer visuellen Ebene, indem das Dargestellte sich durch sie formuliert. Die zahlreichen mehr oder weniger grob ausgeführten Entwürfe führen nicht zu einer Idealform, sondern mehrere Varianten werden herausgegriffen, weiterbearbeitet und weiter mit Quellen aus verschiedenen Kontexten (der Kunstgeschichte, Realität, Fiktion) angereichert. Es wird deutlich, dass die Anlage eines Repertoires nicht nur in heterogenen Ergebnissen kulminiert, sondern dass sie darüber hinaus auslotet, was Bildhauerei und was weiblicher Akt bedeuten können. An der Stele verschiebt sich der Fokus von einer handwerklich-künstlerischen, materiellen Ebene auf eine kunsthistorisch-ästhetische, inhaltliche und das Sujet gerät in den Blick“ (Linda Walther S. 182).

Im Sujet ›weiblicher Akt‹ werden dann auch fundamentale Parameter und Darstellungsmodi der Bildhauerei wie ›Ganzheit / Fragmentierung‹, ›Statik / Dynamik‹, ›Abstraktion / Naturalismus‹, ›Allgemeines / Spezielles‹, ›Spannung / Entspannung‹, ›Horizontalität / Vertikalität‹, ›Kalkül / Zufall‹ und andere mehr verhandelbar. „Über die Beschäftigung mit der Form gelangt man zu einer Beschäftigung mit dem Inhalt und die Trennung von Form und Inhalt kann ein weiteres Mal nicht aufrechterhalten werden; diese Relation muss in Bewegung gehalten werden. Form und Kontext der Präsentation der ›Frauen‹ sind entscheidend daran beteiligt, welche und in welcher Intensität die ihnen innewohnenden Potentiale abgerufen werden“ (Linda Walther S. 183). Die Präsentation der ›Frauen‹ auf Stahltischen unterstreicht den Vorschlagscharakter der von Schütte gefundenen Lösungen, bindet die Figuren zu einer Werkgruppe zusammen und macht sie für den Kunstdiskurs besprechbar. „In den Fällen, in denen sie einzeln in die Öffentlichkeit gelangen und dauerhaft ausgestellt werden, entfalten sie kontextabhängig ihre kritische, die Ikonographie, Topologie, Biografie oder den Kanon betreffende Facetten. Dann zirkulieren sie weiter – materiell-physisch und auch analog und digital abgebildet – um die Welt und halten die offenen Fragen nach der menschlichen, weiblichen Figur und den Möglichkeiten ihrer Darstellung in monumentaler Plastik in der Schwebe“ (Linda Walter a. a. O.).

ham 7. Dezember 2020

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