Mrz 25

Matteo Farinella, Die Sinne

Von Helmut A. Müller | In Sachbuch allgemein

Aus dem Englischen von Benjamin Schilling

Verlag Antje Kunstmann, München 2018, ISBN 978-3-95614-296-3. 160 Seiten, gebunden mit geprägtem Hardcover, Graphicscience / Graphicnovel, Format 23,5 x 17,5 cm, € 20,00 (D) / € 20,60 (A)

Die fünf Sinne Hören, Riechen, Schmecken, Sehen und Tasten sind schon von Alkmaion von Kroton, Demokrit und Aristoteles beschrieben worden. Hans Makart hat ihnen zwischen 1872 und 1879 fünf Gemälde gewidmet (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Makart_Fuenf_Sinne.jpg). Forscher wie Marcello Malpighi (1628 – 1694), Alfonso Giacomo Gaspare Corti (1822 –1876) und George Wald (1906 – 1997) haben ihre mikroskopische Strukturen, ihren Aufbau, ihre Funktionsweisen und ihr Interagieren mit der Umwelt erforscht. In der jüngeren Gegenwart ist man auf weitere Sinne wie den Tiefen- und Gleichgewichtssinn gestoßen. Die Grenzen zwischen Hören, Riechen, Schmecken, Sehen und Tasten werden derzeit in Frage gestellt. „Inzwischen ist klar, dass alle Sinne sich gegenseitig beeinflussen können und in Verbindung miteinander stehen – im extremsten Fall in Form einer Synästhesie. Besonders bei Geruch und Geschmack ist das ganz offensichtlich. Fehlt ein Sinn, so kann er durch andere ersetzt oder nachgebildet werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden […] noch neue Sinne dazukommen, wenn die Technologien uns und unser Leben mehr und mehr durchdringen“ (Matteo Farinella S. 159).

Der Neurowissenschaftler und begeisterte Zeichner von Graphicsciense-Novels Matteo Farinella führt in seiner jüngsten Graphicnovel Die Sinne höchst unterhaltsam, anschaulich und verständlich in den Stand der Forschung ein, erinnert an wichtige Forscherpersönlichkeiten und lässt es sich nicht nehmen, menschliche mit den Sinnen von Tieren zu vergleichen.

So besteht im ersten Kapitel eine Maus – oder ist es eine Ratte? – darauf, dass der Tastsinn der Menschen nicht besonders gut ausgeprägt ist, sie ihr Fell verloren und noch nicht einmal richtige Vibrissen haben, also Tasthaare, die viel besser als menschliche Haare mit Nerven versorgt und beweglicher als diese sind. Unter der menschlichen Haut finden sich aber Mechanorezeptoren, die auf Berührung, Druck, Druckveränderung, Verformung und Textur reagierten; weiter Nozizeptoren, von denen manche druck- und andere temperaturempfindlich sind. Die Chemorezeptoren gehören einer anderen Familie an; sie „alarmieren das Gehirn, wenn die Haut mit gefährlichen Stoffen in Berührung kommt oder man sich schneidet“ (Matteo Farinella S. 32).

Im Kapitel Schmecken symbolisiert ein feuerspeiender Drache das in Chilis in Öl gelöste Capscaicin, das zwar keine Geschmacksrezeptoren, aber die mit dem Drillingsnerv verbundenen Schmerzrezeptoren aktiviert. Der beim Essen von Chilis ausgelöste Schmerz kann nicht mit Wasser gelöscht werden, weil Capscaicin nicht wasserlöslich ist. „Aber ein Glas Milch hilft. Und nicht zu vergessen Menthol! Es stimuliert die Temperaturrezeptoren und löst so dieses Gefühl von ›Kühle‹ aus“ (Matteo Farinella S. 54). Die Frische von Minze wird also nicht von den in den Geschmacksknospen der Zunge versteckten Chemorezeptoren wahrgenommen, mit deren Hilfe wir süß, bitter, sauer, salzig und umami unterscheiden. „Unsere Wahrnehmung von Essen hängt oft von dessen Textur und Konsistenz ab, besonders aber von unserem zweiten chemischen Sinn: dem Geruchssinn!“ (Matteo Farinella S. 55).

Im Kapitel Riechen führt ein Hund durch das Reich der Geschmäcker und Aromen. „Was wir Aromen nennen, sind meistens zauberhafte Paläste, die die Nase auf den Säulen des Geschmacks errichtet hat […]. Wir schenken der Bedeutung des Geruchssinns kaum Beachtung, obwohl sein Verlust Essen zu einer sehr faden Angelegenheit machen kann – stellen Sie sich vor, jede Frucht wäre nur ›süß‹ und Schokolade einfach ›bitter‹“ (Matteo Farinella S. 64). Dass Hunde unter dem Strich feinere Unterschiede wahrnehmen und einer Fährte auch noch nach Tagen folgen können, liegt an der Anzahl der Rezeptoren. Ein Mensch hat etwa 400 verschiedene; bei einem Hund können es mehr als 1000 sein. Unter dem Schleim der Nasenhöhle „strecken die Riechzellen ihre Zilien heraus, feine Härchen voller Chemorezeptoren, die denen der Geschmackszellen […] ähneln. Aber während die Chemorezeptoren nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip funktionieren, bei dem nur ein bestimmtes Molekül einen bestimmten Rezeptor öffnet, scheinen die olfaktorische Rezeptoren unterschiedliche Merkmale eines Moleküls zu erkennen und daher auf ein breites Spektrum ähnlicher Formen zu reagieren […]. Jeder einzelne von ihnen kann von mehreren Duftstoffen aktiviert werden und jeder Duftstoff kann mehrere verschiedene Rezeptoren aktivieren. Das ist auch der Grund, warum es keine eindeutige Karte oder Klassifikation von Düften gibt (wie für Farben oder Klänge). Wir verfügen nur über sehr wenige spezifische Wörter für Gerüche und müssen uns am Ende oft mit Ähnlichkeiten behelfen: ›Etwas riecht so wie … irgendetwas anderes‹“ (Matteo Farinella S. 66 ff.). Erinnerungen sind an den olfaktorischen Cordex geknüpft. Deshalb hat der Geruch und Geschmack von Madeleines bei Marcel Proust Erinnerungen an seine Kindheit ausgelöst: Seine Tante Léonie hatte ihm bei seinen Besuchen immer dasselbe Gebäck und denselben Tee serviert.

Im nächsten Kapitel führt eine Fledermaus in die Rolle der Schallwellen, der Echoortung und der Klanglandschaften beim Hören ein. Vögel erinnern daran, dass Sprache wie Musik funktionieren und nur eine Weiterentwicklung von ›Musik‹ sein könnte: Klangmuster, um Bedeutungen und Gefühle zu übermitteln. Aber diese Meinung teilen nicht alle. „Sprache hängt zum Teil mit einer bestimmten Region der linken Gehirnhälfte (dem Broca-Areal) zusammen. Und es scheint, dass der gleiche Bereich in der rechten Gehirnhälfte an der Verarbeitung von Musik beteiligt ist […]. Sogar die Alltagssprache hat starke musikalische Züge, wenn es um die Vermittlung von Gefühlen geht“ (Matteo Farinella S. 102 und 107). Das wird an dem in den verschiedensten Kulturen überraschend ähnlich klingenden Babytalk deutlich: Die Säuglinge verstehen die Klangmuster und wissen, ob sie gelobt oder getadelt werden, obwohl die Worte ihrer Mutter keinerlei Bedeutung haben.

Im Kapitel Sehen wird die Retina, der hinter Teil des Auges als der Teil des Zentralnervensystems vorgestellt, der die über die Pupille einfallenden Lichtsignale mittels Photorezeptoren für den visuellen Cortex aufbereitet. Der dorsale Pfad des visuellen Systems verarbeitet Informationen über Bewegung, Tiefe und die Modulationen von Aufmerksamkeit; der ventrale Pfad Informationen zu Umriss, Form, Farbe sowie zur Gesichtserkennung. Schließlich erklärt ein Menschenaffe, was Blindsehen bedeutet.

Im Epilog wird reflektiert, wie Körper und Geist zusammenhängen könnten: „Manchmal neigen wir dazu, den Körper als bloße Hülle, als temporäre Behausung für unseren Geist […] zu betrachten. Doch in Wahrheit ist unser Körper viel mehr als das: Er formt die Art und Weise, wie wir denken […]. Es gibt keine reinen ›platonischen‹ Ideen, nur solche, die in Beziehung zu unserem Körper stehen […]. Wir erleben unsere Welt aber nicht nur passiv mit unseren Sinnen, sondern filtern sie beständig durch das gewaltige Geflecht an Informationen, die aus dem Inneren unserer Körper kommen. Es gibt also nicht nur die eine Realität, sondern so viele, wie es unterschiedliche Körper gibt“ (Matteo Farinella S. 152 ff.).

ham, 25. März 2019

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