Herausgegeben von Klaus-Martin Bresgott, Kulturbüro der EKD; mit Texten von Johann Hinrich Claussen, Andreas Hillger, Klaus-Martin Bresgott und einem Grußwort von Philip Kurz

Park Books, Zürich, 2019, ISBN 978-3-03860-158-6, 234 Seiten, 398 farbige Abbildungen, gebunden, Flexicover, Format 30,2 x 23,5 cm € 48.00 / CHF 49.00

Kirchen prägen bis in die 1960er-Jahre den Städtebau und natürlich auch die Silhouetten der Dörfer. Im ausgehenden 20. Jahrhundert erhalten sie zunehmend Konkurrenz von Museen, Banken, Bahnhöfen und anderen Signaturbauten. Von der Aufbruchstimmung, die die Zeit nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und den damaligen Kirchenbau geprägt hat, ist im anfänglichen 21. Jahrhunderts nur noch wenig zu spüren. Die öffentliche Debatte wird eher durch die Klimafrage, die neue Weltunordnung und Dystopien geprägt. Neue Kirchen werden nur noch selten gebaut und bei bestehenden geht es um die Frage, ob sie in Zukunft noch gebraucht werden oder umgenutzt werden sollen. Deshalb überrascht es, dass der 1967 in Greifswald geborenen Kunstgeschichtler, Kulturmanager und Dirigenten Klaus-Martin Bresgott vom Kulturbüro des Rats der EKD den gründlich erarbeiteten, umfangreichen und bestens ausgestatteten Band ›Neue Sakrale Räume‹ auf den Weg gebracht und herausgegeben hat. Man fragt sich, ob die in dem Band  vorgestellten 100 Kirchen der klassischen Moderne an bessere Zeiten erinnern oder den Boden für ihren von den Kirchen nicht mehr allein zu stemmenden Erhalt oder möglicherweise anstehende Umnutzungen vorbereiten sollen.

Bresgott sieht in den zwischen 1921 und 1939 zwischen Bruchsal, Zürich-Altstetten und Wien gebauten Kirchen neben den mit dem Deutschen Werkbund, dem niederländischen Architekten-, Maler- und Designerbund De Stijl, dem Bauhaus, dem russischen Konstruktivismus und dem Expressionismus verbundenen Aufbrüchen Altes am Werk; „die Sehnsucht nach geisterfüllter Einheit in von mittelalterlicher Glaubenskraft geprägter Gemeinschaft. Das soll der neue Kirchenbau ausdrücken und sich dafür baulich im Rückblick auf eben das Mittelalter und auf dessen raumästhetische Ordnung und Dimension beziehen. Die Romanik, in ihren Formen der modernen Sachlichkeit durchaus nahe, wird zum Ideal erhoben, weltanschaulich überhöht und dient Theologen, Kunsthistorikern und Architekten als Abbild eines zeitgemäßen sakralen Baustils. Dabei kommt es zu geschichtlichen Deutungen und Rechtfertigungen, die kunstgeschichtliche, baupraktische und nicht zuletzt auch kirchenpolitische Argumente ideologisch vermengen und oftmals mit völkischem Sendungsbewusstsein zur Rettung von Christentum und Gesellschaft  vorgetragen werden“ (Klaus–Martin Bresgott S. 6 f.).

Bresgott ordnet dieses Denken dem Heimatschutzstil zu, der an der Basilika oder der Hallenkirche, den klassischen Dachformen, machtvollen Westwerken, triumphalen Portalen und romanischen Rundbogen festhält. German Bestelmeyer (1874 – 1942) hat 1927 bis 1930 die Gustav-Adolf-Gedächtniskirche in Nürnberg – Lichtenhof in diesem Stil gebaut (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav-Adolf-Gedächtniskirche), Michael Kurz (1876 – 1957) 1927 bis 1929 St. Heinrich in Bamberg (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=st.+heinrich+bamberg&tbm=isch&source=hp&sa=X&ved=2ahUKEwizgazt4evjAhUBKFAKHdHFDJQQsAR6BAgGEAE&biw

=1667&bih=912) und Albert Boßlet (1880 –1957) 1931 bis 1933 die Christkönig-Kirche in Hauenstein (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1667&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=fiVIXZ6YEsKukwWZm4QQ&q=Christk%C3%B6nig-Kirche+in+Hauenstein&oq=Christk%C3%B6nig-Kirche+in+Hauenstein&gs_l=img.12…199169.207583..209842…0.0..0.107.2450.31j2……0….1..gws-wiz-img…..0..0j35i39j0i67j0i30.fGWZBqhjHyg&ved=0ahUKEwiez-nw4evjAhVC16QKHZkNAQIQ4dUDCAY).

Ihre Intentionen folgen der Vorstellung, dass die Liturgie die Bauherrin der Kirche ist. Traditionelle Bauformen und regionale Baustile behalten ihr Recht. „Grundsätzlich antimodernistisch oder einfach provinziell sind sie aber nicht. Das zeigt sich an der Offenheit für die neuen Materialien für den Außenbau und in der Absage an überkommenem Dekor […]. Ihre Monumentalität und heute teilweise bedrohlich wirkende Befestigung […] ist Bild der festen Burg Gottes“ (Klaus-Martin Bresgott S. 7).

Zu dem stark von der Malerie inspirierten gleichzeitigen architektonischen Expressionismus rechnet Bresgott unter anderem die von Udo Linder (1891 – 1976) von 1925 bis 1927 in Baienfurt gebaute Kirche Mariä Himmelfahrt (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1667&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=GypIXYLqA8-NkwX47LjIDA&q=Baienfurt+Kirche+Mari%C3%A4+Himmelfahrt&oq=Baienfurt+Kirche+Mari%C3%A4+Himmelfahrt&gs_l=img.12…38995.38995..42238…0.0..0.52.52.1……0….1..gws-wiz-img.tChzQJXyp0Q&ved=0ahUKEwjC4-2j5uvjAhXPxqQKHXg2DskQ4dUDCAY), die 1928 bis 1929 von Theo Burlage (1894 – 1971) gebaute Kirche St. Franziskus von Twist-Schöninghsdorf (vergleiche dazu  https://www.google.de/search?biw=1667&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=RSpIXbOOOpGbsAf-44bwBA&q=St.+Franziskuskirche+von+Twist-Sch%C3%B6ninghsdorf&oq=St.+Franziskuskirche+von+Twist-Sch%C3%B6ninghsdorf&gs_l=img.12…363890.367203..368981…0.0..0.91.92.2……0….1j2..gws-wiz-img…..0.fkc7nH5um2I&ved=0ahUKEwjzxKe45uvjAhWRDewKHf6xAU4Q4dUDCAY) und die 1925 bis 1926 von Martin Elsaesser (1884–1957) in Esslingen gebaute Südkirche (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1667&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=tytIXY-yJofgU9CFj_gG&q=+Esslingen++S%C3%BCdkirche&oq=+Esslingen++S%C3%BCdkirche&gs_l=img.12..0i8i30.1139307.1145469..1148334…0.0..0.86.160.3……0….1j2..gws-wiz-img…..0.G37dXU_3ugY&ved=0ahUKEwjP6cro5-vjAhUH8BQKHdDCA28Q4dUDCAY). Der architektonische Expressionismus bindet sich über handwerkliche Fertigkeiten und den herkömmlichen Backstein an die Tradition, nützt aber gleichzeitig die neuen Möglichkeiten des Stahlbetons. „Der Außenbau wird wie in allen Stilrichtungen dieser Zeit auch hier schon beinahe selbstverständlich industriell gefertigt. Preiswerter, zügig verarbeiteter und flexibler Stahlbeton wird verwendet und mit Backstein verblendet. Charakteristisch für den Expressionismus sind die Vorliebe für skulpturale und farbintensive Ausgestaltung, für Dreiecke, Zacken und Schwünge und die aus dem Flugzeugbau und der jungen Raketentechnik übernommenen Parabeln, die eine neue Form zwischen Rund- und Spitzbogen darstellen. Räumliche Stufungen und Verschachtelungen werden genutzt, um Höhenwirkungen oder die Konzentration auf den Altar hin zu verstärken. Besonders überzeugend sind schließlich die große Individualität eines jeden Baus mit der künstlerisch-handwerklichen Detailfreude im Innenraum und die jeweils zugrunde liegende Konzeption als Gesamtkunstwerk“ (Klaus-Martin Bresgott a. a. O.).

Dem Neuen Bauen und seinen Varianten wird unter anderem Otto Bartnings (1883 – 1959) 1829 bis 1930 im Essener Südostviertel gebaute Auferstehungskirche zugerechnet (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1667&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=NDBIXd65JO3YgwfGrIrAAg&q=

Essener+S%C3%BCdostviertel++Auferstehungskirche&oq=Essener+S%C3%BCdostviertel++Auferstehungskirche&gs_l=img.12…533937.542059..544287…0.0..0.71.137.3……0….1j2..gws-wiz-img…..0.fUSxMPI54P8&ved=0ahUKEwjeo7qM7OvjAhVt7OAKHUaWAigQ4dUDCAY), Martin Webers (1890 –1941) 1928 bis 1929 in Frankfurt am Main –Bornheim gebaute Heilig-Kreuz-Kirche (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1667&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=DTNIXaLPII2gUJX1pfAD&q=Frankfurt+am+Main+%E2%80%93Bornheim+Heilig-Kreuz-Kirche&oq=Frankfurt+am+Main+%E2%80%93Bornheim+Heilig-Kreuz-Kirche&gs_l=img.12…7761.7761..10103…0.0..0.79.79.1……0….1..gws-wiz-img.cy7bbwmzb0I&ved=0ahUKEwjiiYXo7uvjAhUNEBQKHZV6CT4Q4dUDCAY) und Hans-Heinrich Grotjahns (1887 – 1962) 1930 bis 1932 in Leipzig – Gohlis gebaute Versöhnungskirche (vergleiche dazu https://www.google.de/search?biw=1667&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=0jNIXfHuDcaRhbIP0POQyAk&q=Leipzig+%E2%80%93+Gohlis++Vers%C3%B6hnungskirche&oq

=Leipzig+%E2%80%93+Gohlis++Vers%C3%B6hnungskirche&gs_l=img.12…7948.7948..10175…0.0..0.55.55.1……0….1..gws-wiz-img.Rnnc3texW-o&ved=0ahUKEwjxn-rF7-vjAhXGSEEAHdA5BJkQ4dUDCAY). Die Architekten des Neuen Bauens denken über „funktional gestaltete Räume“ nach, „die sich an den neuen Bedürfnissen orientieren. Ihre Bauten öffnen sich dem Licht und stellen richtungsweisende Möglichkeiten vor, das ›Pathos der Profanität‹ gegenwärtig sein zu lassen. Klare, meist kubische Raumformen, der Wechsel ruhiger geschlossener Wandflächen mit Lichtbändern, die neben dem Tageslicht auch eine Verbindung mit der Umgebung herstellen, sind entscheidende Merkmale dafür. Sie schaffen einen sakralsäkularen Charakter, der eine neue Gemeindekirche ausmacht und sie als ein funktionales Gebäude des alltäglichen Lebens überzeugend in dessen Mitte stellt“ (Klaus-Martin Bresgott S. 9). 

Die 100 in Text und Bild vorgestellten Kirchen sind „architektonische Wegmarken im Einklang oder in Auseinandersetzung mit den theologischen Vorstellungen und Visionen der Zeit zwischen Tradition und Emanzipation“ (Klaus-Martin Bresgott a. a. O.). Dass auf evangelischer Seite allein der Theologe Paul Girkon (1889 – 1967) auf hohem Niveau über das Bauen von Kirchen nachgedacht, geschrieben und an avantgardistischen Bauten wie Otto Bartnings Stahlkirche von 1928 auf der Pressa-Weltschau am Rhein in Köln-Deutz mitgewirkt hat, mag ein weiterer und letztlich maßgeblicher  Grund für die Herausgabe dieser informativen und lesenswerten Übersicht über die Architektur der Klassischen Moderne sein (vergleiche dazu Johann Hinrich Claussen, Die Suche nach einer protestantischen Bau-Mystik. Im angezeigten Band S. 13 – 15 und https://www.google.de/search?biw=1667&bih=912&tbm=isch&sa=1&ei=0jNIXfHuDcaRhbIP0POQyAk&q=Otto+Bartnigs+Stahlkirche+auf+der+Pressa-Weltschau&oq=Otto+Bartnigs+Stahlkirche+auf+der+Pressa-Weltschau&gs_l=img.12…3642.6911..8846…0.0..0.79.151.2……0….1j2..gws-wiz-img…..0.e02Qh61HZDc&ved=0ahUKEwjxn-rF7-vjAhXGSEEAHdA5BJkQ4dUDCAY#imgrc=NRRvt87EQUDUJM:).

ham, 5. August 2019

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