Jul 30

verlassen auf mein Herz

Von Helmut A. Müller | In Katalog, Kunst

Publikation zu der von Philipp Haager kuratierten gleichnamigen Ausstellung vom 01. Juni bis 28. Juli 2018
in der Galerie im Künstlerhaus Leonberg, konzipiert und herausgegeben von dem Kurator mit Texten von
Thomas Grötz, Frank-Thorsten Moll und dem Herausgeber und Künstlerporträts von Denise Moriz, Anette
Apel, Gilbert Schneider, Fabian Schubert, Calvin Cohn, Philipp Haager und den Autoren

Leonberg 2018, ISBN 978-3-00-058945-4, 134 Seiten, 54 Farb- und 11 s-w-Abbildungen, Broschur, Format
21 x 21 cm

Philipp Haager hat die von ihm kuratierte Ausstellung im Künstlerhaus Leonberg unter das Motto ›verlassen
auf mein Herz‹ gestellt. Kenner von Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling werden seinen Satz „Ich muß
mich verlassen auf mein Herz über Not und Tod hinaus“ (vergleiche dazu https://www.aphorismen.de/zitat/
153469) dem Früh-, dem mittleren oder dem Spätwerk des 1775 in Leonberg geborenen Philosophen
zuordnen können und dann wohl darüber streiten, ob sein Verständnis von „Herz“ mit dem heute im Gehirn
verorteten Ich-Erleben und der uns fragwürdig gewordenen Vorstellung eines sich selbst verstehenden, sich
selbst verantwortenden und aus freiem Entschluss schöpferisch tätig werdenden Ichs verglichen werden kann
oder nicht (vergleiche dazu und zum Folgenden Klaus Scherzinger, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling –
Philosoph der Romantik. In: https://www.schulstiftung-freiburg.de/eip/media/forum/pdf_459.pdf). Je
nachdem werden sie dann eine gewisse Nähe oder eine kaum zu überbrückende Ferne Schellings zum heute
gängigen Kunstverständnis und zum heute proklamierten Wesen des Schöpferischen konstatieren.

Natur und Geist lassen sich nach dem Frühwerk von Schelling auf einen gemeinsamen Ursprung
zurückführen. Zwischen Naturschaffen und Kunstschaffen besteht nach Schelling ein gewisses Analogon
insofern, als das Gestalten auch in der Kunst „weithin unbewußt gelenkt“ ist. „Aber Kunst ist eben doch
mehr als sich auswirkende Naturkraft, sie ist wesentlich geistig bestimmt […]. Im Kunstwerk wird die in
Natur und Geist wirkende universale Kraft als Harmonie sichtbar und tritt als solche in die Realität. Der
Künstler […] wird von seinem Werk selbst überrascht […]. Im Werk erkennt sich das Genie als Einheit von
bewußtem und unbewußtem Schaffen selbst gleichsam als vermittelt […]. Kunst synthetisiert Natur und
Freiheit, aber in der Weise der Spannung, zu der es gehört, die Gegensätze nicht zu beseitigen. Unendliches
wird endlich und bleibt doch unendlich. Schelling definiert: ›Das Unendliche endlich dargestellt ist
Schönheit‹. Schönheit ist als durch Kunst hergestellt zugleich das Prinzip für die Beurteilung des
Naturschönen […]. Nicht die Welt als vorhandene wird im Kunstwerk abgebildet, sondern die weltbildende
Kraft als solche […]. Die Kunst bildet nicht die wirkliche Welt ab, sondern deren Urbilder, ›die in der Kunst
selbst objektiv werden‹. Die Deklarierung eines Bezugs der Kunst auf die Urbilder erinnert an den
platonischen Idealismus. Bei genauerem Studium erkennt man aber, dass die Urbilder nicht vorgegeben sind.
Sie werden kreativ, dem göttlichen Schöpfungsprozess vergleichbar, in geordneter Abfolge vom Künstler
ersehen“ (Walter Schulz, Metaphysik des Schwebens, Pfullingen 1985, S. 32 ff.).

In einem Fragment aus seinem Nachlass nähert sich Schelling der Vorstellung von Friedrich Christoph
Oetinger an, dass die Leiblichkeit das Ziel aller Wege Gottes ist. Unserem Herzen genügt „das bloße
Geisterleben nicht“ (Friedrich W. J. Schelling, Clara oder über den Zusammenhang der Natur mit der
Geisterwelt. Aus dem Nachlass, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart, 1862, S. 178). „Es ist etwas in uns,
das nach wesentlicher Realität verlangt … und wie der Künstler nicht ruht im Gedanken seines Werkes,
sondern nur in der körperlichen Darstellung und jeder von einem Ideal Entbrannter es in leiblich sichtbarer
Gestalt offenbaren oder finden will, so ist das Ziel aller Sehnsucht das vollkommen Leibliche als Abglanz
des vollkommen Geistigen“ (Friedrich Wilhelm Schelling, a. a. O. zitiert nach Klaus Scherzinger S. 70).
Schelling reagiert damit auf die Einsicht, dass die Welt trotz aller Entwicklung zum Geistigen hin nicht
vernünftiger wird, es faktisch weiterhin Unvernünftiges und Ungeordnetes gibt und die Unvernunft die
Menschenwelt regiert (vergleiche dazu Walter Schulz, a. a. O. S. 283). Schuld ist das mit der menschlichen
Freiheit verbundene Freiwerden der dunklen Kräfte, die den, der die Krone der Schöpfung sein sollte, zum
Stifter der Verwirrung und zum eigentlich Unbegreiflichsten machen (vergleiche dazu Walter Schulz a. a. O.
S. 284). Für Schelling liegt die Lösung im christlichen Glauben. Der Weg führt über die Selbstdestruktion
des durch Trieb, Drang, Begierde und Sucht korrumpierten Ichs. Der sich auf sich selbst stellende Geist, der
„Geist als selbstsüchtiges Prinzip soll zur Seele werden […]. Daß eine solche Umkehrung möglich ist, zeigt
sich in der ›mystischen Frömmigkeit‹, dies ist die erste Form der Wiederfindung Gottes, ›Die zweite Stufe ist
die Kunst, durch welche sich das Ich dem Göttlichen ähnlich macht, göttliche Persönlichkeiten
hervorzubringen, und wozu dieser selbst durchzudringen sucht, die Kunst, die das Entzückende schafft, wenn
der Geist Seele wird (in völlig selbstloser Produktion), was nur den Künstlern höchster Art geschieht, nicht
daß sie es wüßten oder verständen, sondern durch wahre Bestimmung ihrer Natur‹ […]. In der Kunst bahnt
sich ein ›ideelles Verhältnis‹ zu Gott an, das den Menschen über sich selbst erhebt, so daß er von sich
loskommt“ (Walter Schulz, a. a. O. S. 285).

Thomas Grötz scheint in seiner Einführung in die Ausstellung von einem kaum überbrückbaren Graben
zwischen Schelling und dem heutigen Kunstverständnis auszugehen. Für ihn ist es „nicht leicht, sich auf sein
Herz zu verlassen […], in einer undurchdringlichen Zeit, die der Geist nicht so leicht ordnet. Emotionale
Intelligenz, wo der Verstand kapituliert?“ Oder auf den Körper setzen, der ja auch emotionale Anteile hat?
„Einen Weg aufzuspüren und zu verfolgen, ist wohl auch in der Kunstausübung wichtig. Irgendwie müssen
ja physische Anstrengung, Leidenschaft und konzeptionelle Überlegungen zusammen kommen, wenn ein
Kunstwerk entstehen soll“. Und weiter: Warum „sollte ein Künstler, der heute, wenn er erfolgreich sein will,
zunächst mal als Kleinunternehmer agieren muss, für sich Spuren eines prekären Idealismus in Anspruch
nehmen?“. Und schließlich: „Ist die Überspanntheit der Gegenwart wirklich noch dieselbe wie im frühen 19.
Jahrhundert […]? Mit Schrecken nehmen wir ein nicht mehr Vorhandenes zur Kenntnis, das sich als
Kontinuität, oder gar als Tradition darstellt“ (Thomas Grötz S. 10 f.).

Die von Philipp Haager eingeladenen 14 Künstlerfreundinnen und -freunde hat der von Grötz konstatierte
Abstand zu Schelling nicht wirklich gestört. Sie haben sich wohl aus freundschaftlicher Verbundenheit sehr
gerne nach Leonberg einladen lassen, ihr je eigenes Kunstverständnis mit nach Leonberg gebracht, ihre
Arbeiten trotz aller Unterschiede gemeinsam präsentiert und Schelling Schelling sein lassen. Deshalb ist es
eher unwahrscheinlich, dass sich auch nur eine Minderheit der in Leonberg vertretenen Künstler in der
Nachfolge von Schelling sieht. Ob sie mehrheitlich die ihnen von Haager zugeschrieben Vorstellungswelt
einer „überzeugenden Eingebung“, eines Herzens „mit Verstand“, einer „intuitiven Vermaßung der Malerei
und all ihrer Erscheinungen“ und einer „analytischen Witterung“ (Philipp Haager S. 8) teilen, wäre zu
überprüfen. Zwischen der kolorierten Federzeichnung „Neckaransicht Tübingen mit Hölderlinturm und
Stiftskirche“ des 1893 geborenen Karl Reuss, den Buntstiftzeichnungen des 1941 geborenen Volker Haas,
den Radierungen des 1955 geborenen Branko Šmon und den Aquarellen, Malereien, Tuschen,
Papierschnitten über Malereien über Magazincovern und den gefärbten und gebleichten Netzstoffen der
zwischen 1963 und 1984 geborenen André Butzer, Thomas Grötz, Philipp Haager, Marcel Hüppauf, Jörg
Mandernach, Lea Pagenkemper, Jochen Plogsties, Pat Rosenmeier, Philipp Schwalb, Anja Schwörer, Anna
Steinert und Josef Zekoff liegen, jedenfalls äußerlich gesehen, Welten – und das ab Mitte der 1960er
einsetzende Auseinanderbrechen gemeinsamer künstlerischer Traditionen.

ham, 30. Juli 2018

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