DownloadEröffnung Porträts zum 70.

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Liebe Freundinnen und Freunde der Nordheimer Scheune, sehr geehrte Damen und Herren,

dass wir heute 44 Künstlerporträts von meiner Frau und mir aus Anlass unseres 70. Geburtstags in der Nordheimer Scheune vorstellen können, war uns nicht in die Wiege gelegt: In unseren Geburtsjahren1948 und 1949 gab es in unseren Elternhäusern zwar Fotoalben und gerahmte Fotografien von Großeltern, wichtigen, im Zweiten Weltkrieg verstorbenen Familienmitgliedern, Kindern und Hochzeitsbilder der Eltern an den Wänden. Aber dass es im Adel, der Geistlichkeit und dem Bürgertum eine lange Tradition von Porträts gibt und dass die Bundesrepublik ihre Kanzler und selbst die Evangelische Landeskirche in Württemberg ihre Bischöfe von Künstlern porträtieren lässt, haben wir erst sehr viel später wahrgenommen.

Die Kunstgeschichte schreibt Porträts neben der memorialen auch die Funktion zu, den oder die Porträtierten zu vertreten, zu verehren und gelegentlich auch zu verspotten. Sie erinnern sich sicher an den ›Freischütz‹ in Friedrich Schillers ›Wilhelm Tell‹, der sich weigert, den Gesslerhut zu grüßen. Bilder, die man zwischen Fürstenhäusern getauscht hat, haben die Freundschaft unterstrichen. Albrecht Dürer hat in seinem Handbuch der Malerei von 1507 von zwei Aufgaben der Malerei gesprochen: Einmal wird sie im Dienste der Kirchen gebraucht und soll das Leiden Christi darstellen. Zum anderen soll sie die Gestalt des Menschen nach seinem Sterben in Erinnerung halten. Was vorderhand zwei verschiedene Aufgaben zu beschreiben scheint, war doch einem Ziel untergeordnet: „Einen Beitrag zu Rettung der Seelen zu leisten. Dieser Aufgabe dienten die Altäre und Werke der Devotionalien-Kunst in Kirchen und Gebetsräumen, aber auch die Porträts, die das Andenken an die Verstorbenen wach hielten, die keine Hoffnung hatten, unmittelbar ins Paradies aufgenommen zu werden“ (Peter Jezler, Jenseitsmodelle und Jenseitsvorsorge. Eine Einführung. In: Himmel, Hölle, Fegefeuer, Das Jenseits im Mittelalter, München 1994). Die Grafenstandbilder in der Stuttgarter Stiftskirche hatten genau diese Memorialfunktion. Sie stehen für einen ewig währenden Gottesdienst.

Manche gehen davon aus, dass das vom Schattenriss an der Wand abgeleitete Porträt am Anfang der Malerei steht. Menschliche Figuren gibt es zwar auch schon in der Prähistorie, aber einen individuellen Ausdruck besaßen diese Figuren noch nicht. Aus der mykenischen Kultur kennt man die goldene Totenmaske des Agamemnon. Und in Ägypten gab es bereits zwischen 2600 und 2160 vor Christus Bilder mit individuellem Charakter. Die Porträts von Nofretete und von Tutanchamun gelten als frühe Höhepunkte der persönlichen Porträtdarstellung.

In Griechenland hat man dagegen die inneren Werte höher geschätzt als das äußere Bild. So ist es nach Aristoteles Aufgabe der Kunst, nicht die äußere Erscheinung der Dinge, sondern ihre innere Bedeutung zu repräsentieren. Deshalb überliefern uns die Bilder von Sokrates, Sophokles und Platon idealisierte und typisierte Gestalten, keine Individuen. Der Streit, ob die äußere Gestalt oder der innere Wert im Vordergrund stehen soll, zieht sich dann durch die Geschichte des Porträts. So zeigen auch die mittelalterlichen Bilder von Königen und Bischöfen keine Individuen, sondern Träger von Funktionen. Ihre Kleider und ihre Herrschaftsinsignien stellen klar, was sie in der Gesellschaft zu sagen haben und was sie sind.
Erst ab dem 14. Jahrhundert wird der Wunsch nach Ähnlichkeit mit der abgebildeten Person wieder größer. Die Porträtbüste des Peter Parler im Veitsdom von Prag gilt als frühes Beispiel für diese erneute Wendung. In der Renaissance ist die Virtuosität eines Tizian gefragt, im Barock die eines Rembrandt von Rijn. Im bürgerlichen Porträt überwiegen die Brustbilder; die Porträtierten tragen standesgemäße Kleider und demonstrieren mit ihnen ihr gewachsenes Selbstbewusstsein. Im 20. Jahrhundert dekonstruiert Picasso das überlieferte Porträt und zeigt den Menschen in seiner Zerrissenheit. Francis Bacon deckt in seinen Porträts das menschliche Gewalt- und Zerstörungspotential auf und Lucien Freud, der Sohn von Sigmund Freud, verbindet eine empfindsame Seelen- und Innenschau mit seiner souveränen Darstellung der äußeren Gestalt. In der Gegenwart erfindet der Österreicher Erwin Wurm mit seinen ›one minute sculptures‹ eine neue Form des Porträts: So stülpt er den von ihm Porträtierten eine Kiste über den Körper, lässt sie auf einem Stecken an einer Wand hoch reiten und zieht ihnen Zwangsjacken an. Jürgen Klauke macht auf 12 Polizeifotos von ihm selbst abwechselnd ein ernstes und ein fröhliches Gesicht und schreibt über die in Dreiergruppen untereinander positionierten Einzelbilder unter anderem „Richter, Artist, Anarchist, Mörder, Schwuler, Heiliger, Süchtiger, Priester und Soldat“. Man übernimmt diese Überschriften, glaubt, dass der immer gleiche Abgebildete genau das ist, was in der Überschrift zu lesen ist, und fühlt sich an die Zeiten erinnert, in der die Unterschriften ›Adam‹ und ›Eva‹ es möglich gemacht haben, Menschen nackt zu malen. Peter Greenaway vollzieht schließlich und endlich den nächsten Schritt, steckt lebende Menschen als Akte in Vitrinen und wirft damit die Frage auf, ob die so dargebotenen Menschen durch ihr Ausgestelltsein zu Kunstwerken geworden sind, zu Abbildungen ihrer selbst und zu ihren eigenen Porträts.

Ich breche meinen kursorischen Durchgang durch die Geschichte des Porträts an dieser Stelle ab und versichere Ihnen, dass dieses gesammelte Wissen meiner Frau und mir die Antwort auf die Frage nicht leichter gemacht hat, ob wir eine Auswahl der Porträts von uns, die in 40 Jahren im Rahmen von rund 250 Ausstellungen entstanden sind, zu unserem 70. Geburtstag zeigen sollen oder nicht. Einmal waren wir nicht sicher, wie es uns geht, wenn wir uns Tag für Tag gleichsam selbst an der Wand begegnen. Und dann haben wir gemutmaßt, dass man uns narzisstische Motive unterstellen wird. Der Vorbericht zu unserer Ausstellung in der Heilbronner Stimme bestätigt diese Mutmaßung, wenn er im ersten Satz feststellt, dass Helmut Müller kein Narzisst ist, auch wenn die meisten Bilder ihn selbst zeigen.

Kann ich noch davon ausgehen, dass Sie die Erzählung von Narzissus kennen und sich daran erinnern, dass er aufgrund seiner Schönheit von allen und auch von der Nymphe Echo umworben und begehrt worden ist, aber alles Liebeswerben ablehnt und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, ohne zu erkennen, dass er selbst es ist? Nach den Metamorphosen Ovids soll Liriope, die Mutter des Narzissus, den blinden Seher Teiresias gefragt haben, ob ihrem Sohn ein hohes Alter beschieden ist. „Si se non noverit“, hat der Seher erwidert, „wenn er sich nicht selbst (er)kennt“. Aber man kann auch übersetzen: „Wenn er sich selbst nicht wahrnimmt“. Ovid greift nur die eine Seite der Antwort auf und verkürzt damit den Spruch. Demnach stirbt Narzissus, weil er sich als Spiegelbild im Wasser gesehen, erkannt und geliebt hat.

Im Hintergrund steht, dass Narzissus bei Ovid einen Gott zum Vater hat, den Flussgott Cephios – und eine Halbgöttin zur Mutter – die Quellnymphe Liriope. Er ist also nur ein Halbgott und als solcher mit einem neunmal so langen Leben wie gewöhnliche Sterbliche ausgestattet. Durch den Spruch des Teiresias ergibt sich die Frage, ob seine göttliche oder seine menschliche Seite überwiegt. Wenn er eher göttlich wäre, bräuchte er sich nicht selbst zu erkennen, denn das „gnothi seauton“, das „erkenne dich selbst“ auf dem Apollotempel in Delphi gilt nur den Menschen und nicht den Göttern. Wenn Narcissus aber eher einem Sterblichen vergleichbar war, musste er sich selbst erkennen. Und das, bedeutet, dass er sterben wird.

Wir haben alle Bedenken hintangestellt und uns für die Ausstellung entschieden. Wir zeigen unter anderem das Gruppenporträt von 12 Stuttgartern von Ralph Künzler auf der Bühne des alten Hospitalhofs, die alle Helmut Müller heißen, eines von rund 30 Einzelporträts von Stuttgarter Helmut Müllers und sein Doppelporträt von ihm und mir im historischen evangelischen Beichtstuhl in der Stiftskirche von Backnang. Man fragt sich, wer von den beiden der Beichtvater ist und wer beichtet. Dazu kommen das das die Zeichen des aufkommenden digitalen Zeitalters formal verarbeitende Porträt meiner Frau von Jürgen Jaumann, das den Kubismus weiterführende Doppelporträt von Li-Wen Kuo und Waldemar Zimbelmanns Materialobjekt von meiner Frau und mir. Weiter als älteste Arbeit das Polaroid der heute international bekannten New Yorker Konzeptkünstlerin Mary Ellen Carroll von meiner Frau, die fünfteilige Serie Irmgard M des heute wohl bekanntesten deutschen Malers und Performers Jonathan Meese, ein frühes Porträt meiner Frau von der als Porträtmalerin bekannt gewordenen Düsseldorfer Künstlerin Ulrike Zilly, drei MetaPorträts des 2015 verstorbenen Schwäbisch Gmünder Medienkünstlers Ed Sommer von mir, die mich in meinem geistigen und kosmischen Umfeld zeigen und die konzeptuelle Dekonstruktion der überkommenen Kleiderordnung von Florian Klette: In seiner sechsteiligen Folge fotografiert Klette einen abgelegten Anzug von mir, staucht, zerreißt und übermalt den Stoff und überträgt ihn auf neue Trägermedien. Den 11 Zeichnungen unseres seit 25 Jahren in Kuba lebenden Malerfreundes Siegfried Kaden von meiner Frau und mir sieht man an, dass auch der Zeichner sein inneres Bild von den Porträtierten mit deren äußerem verschmelzen lässt. Die im Ausdruck und in der Anmutung sehr unterschiedliche Malereien des Deutschrussen Yury Kharchenko erinnern zum einen an Lenin und zum anderen an einen alten Weisen. Die eigens für die Ausstellung erarbeiteten Malereien des Koreaners Yongchul Kim und des Deutschen Ruprecht von Kaufmann zeigen zwei gegensätzliche mentale Seiten des Porträtierten. Schließlich lässt Janusz Czechs experimentelle Fotoarbeit als jüngstes Bild in der Ausstellung ihn als unergründlich und als Geheimnis erscheinen.

Nicht gezeigt werden konnten unter anderem die schon in Backnang entstandenen Porträts und Spottzeichnungen des 1999 verstorbenen Göppinger Künstlers Kurt Garbert und das einstündige Filmporträt des 2017 verstorbenen Münchner Zeichners, Malers, Fotografen und Medienkünstlers Kurt Benning.

Meine Frau und ich zeigen diese Arbeiten, weil wir uns an ihnen freuen und weil wir den Künstlern dafür dankbar sind, dass sie uns Seiten von uns zeigen, die wir sonst nicht kennen würden. Sie helfen uns damit, uns selbst zu erkennen und zu wissen, dass wir wie Narzissus sterblich sind.

Helmut A. Müller
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