Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2019, ISBN 978-3-374-06011-5, 238 Seiten, Paperback, 

Format 19 x 12 cm, € 28,00

Für den 1954 in Nürnberg geborenen und zuletzt Praktische Theologie in Münster lehrenden evangelischen Theologen Christian Grethlein stellen die meisten Konzeptionen der Lebensalter die leistungsfähigen und aktiven Erwachsenen ins Zentrum und vergessen die Kinder. Dabei stehen die Kinder nach dem sogenannten Kinderevangelium in einzigartiger Nähe zum Reich Gottes. „Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ (Markus 10, 15; vergleiche dazu Matthäus 19, 16–26; Lukas 18, 18 – 27). Ihre völlige Angewiesenheit auf andere, ihre Hilfsbedürftigkeit und ihre Abhängigkeit lässt sie zu einem sprechenden Bild für die Angewiesenheit des Menschen auf Gott werden. Vergleichbares gilt auch für alte und hinfällige Menschen.

„Die Herausstellung von (jungen) Kindern durch Jesus hinsichtlich ihrer besonderen Nähe zur Gottesherrschaft steht insgesamt quer zu den unterschiedlichen Präferenzen von Lebensaltern in der Geschichte. Die, die nicht leistungsfähig, sondern besonders verletzlich sind, hob der Wanderprediger aus Nazareth – gegen den Widerstand seiner Jünger – als Vorbild für Erwachsene hervor. Dazu findet sich in der biblischen Tradition eine Wertschätzung der Alten. Sie ist prägnant … im Elterngebot des Dekalogs formuliert. Es ist erstaunlich, dass … die von Jesus klar formulierte Hochschätzung der Kinder zurücktrat und oft ganz vergessen wurde. So werden Kinder in der westlichen Kirche seit dem 13. Jahrhundert vom Abendmahl ausgeschlossen … Ich vermute, dass …der das Mönchtum bestimmende und im Lauf der Zeit auf sonstige Kleriker ausgeweitete Zölibat ein wesentlicher Grund hierfür war. Viele Jahrhunderte trieben nur Männer Theologie und leiteten Kirche, die keinen unmittelbaren Kontakt zu Kindern hatten … Das Vergessen der Kinder galt wohl ähnlich für die meistens patriarchal geführten Pfarrhäuser, in denen die Familienarbeit und damit der nahe Kontakt zu den Kindern den Pfarrfrauen oblagen …

[Neu] ist heute die große Zahl von Alten und bei ihnen wiederum der Pflegebedürftigen. Nimmt man deren … ›totale Angewiesenheit auf das Empfangen und ⟩Sich.beschenken-lassen⟨‹, so scheint mir im heutigen Kontext die besondere Herausstellung der Kinder durch Jesus jedenfalls grundsätzlich auf Alte (des sog.

›vierten Alters‹) übertragbar … Wenn dies zutrifft, so muss nachdenklich machen, dass gerade [diese] beiden Personengruppen … heute nicht selten in Sondereinrichtungen jenseits des alltäglichen Lebens segregiert werden. Die nur vom Erwachsenenalter realisierbaren Lebensformen des ›Homo faber‹ und ›Homo oeconomicus‹ stehen offenkundig der Einsicht Jesu in den Kontakt zu Gott als grundlegend für menschliches Leben entgegen“ (Christian Grethlein S. 209 ff.). Mit der seit Dennis L. Meadows’ ›Grenzen des Wachstums‹ diskutierten und heute offensichtlich gewordenen ökologischen Krise ist überdeutlich, dass eine wachstumsfixierte Ökonomie und eine ressourcenverbrauchende Technisierung das Angewiesensein aller Menschen auf Gegebenes und Hilfe vergisst. 

Für die christliche Lebensform sind von daher Kindheit und Alter wichtige Lebensphasen, die keineswegs nur als Beginn bzw. Ende des Lebens funktional verstanden werden dürfen. Sie tragen nicht nur einen Eigenwert in sich, sondern können sogar Jugendliche und Erwachsene orientieren. Dazu muss aber die gegenwärtig verfolgte, in dem Ideal juvenilen Erwachsenseins begründete Segregation von Kindern und nicht mehr leistungsfähigen Alten aus der Öffentlichkeit beendet werden“ (Christian Grethlein S. 211).

Gegenüber Vorstellungen eines Fort- und Weiterlebens über den biologischen Tod hinaus und einer grundsätzlich unbegrenzten Ausdehnung der Lebenszeit (vergleiche dazu etwa https://transhumane-partei.de/was-ist-transhumanismus/ und https://www.sueddeutsche.de/wissen/verbesserte-menschen-die-vielleicht-gefaehrlichste-idee-der-welt-1.1691220-0#seite-2) setzt Grethlein auf die Realität des Sterbens und des Todes. Mit dem Tod ist die Einzigartigkeit jedes Lebens besiegelt und jede Form menschlichen Handelns beendet. Wenn es nach dem Tod noch ein Handeln gibt, dann das Handeln Gottes.

„Von daher erschließt sich noch einmal …, warum den (kleinen) Kindern – und … den pflegebedürftigen Alten sowie Menschen mit Behinderungserfahrung – eine besondere Stellung innerhalb der christlichen Lebensform zukommt. In ihnen spiegelt sich die Grundsituation des Menschen als eines Geschöpfs Gottes in besonderer Klarheit wider. Das mindert nicht den Wert der anderen Lebensalter. Kinder werden zu Jugendlichen, Erwachsene sind notwendig, um sie zu pflegen und in die Welt zu begleiten. Doch stellt die Einsicht in den für Menschen grundlegenden Habitus des Empfangens erwachsene Lebensformen grundsätzlich in Frage, die diesen ausblenden bzw. geringschätzen: die des ›Homo oeconomicus‹ und des ›Homo faber‹. Angesichts der ökologischen Situation … erscheint es notwendig, das durch ihre Bedürftigkeit besondere Herausgehoben-Sein der Kinder, mancher Alter und Menschen mit Behinderungserfahrung in seiner allgemeinen Bedeutung zu betonen. Es steht in theologischer Perspektive der letztlich suizidalen wachstumsfixierten Ökonomie, der auf Steigerung angelegten Beschleunigung und der ressourcenverbrauchenden Technisierung entgegen. Dies gilt sowohl für die Gestaltung des persönlichen Lebens als auch von Gesellschaft. Die Dominanz linearer Zeit und damit der allgemeinen Beschleunigung wird dadurch gebrochen – eine neue Perspektive auf die dem Schöpferwillen entsprechende Lebensform eröffnet“ (Christian Grethlein S. 237 f.).

ham, 7. Juli 2021

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