Kösel-Verlag, München 2020, ISBN, ISBN 978-3-466-34758-2, 589 Seiten, Hardcover gebunden, Format 

22 x 15,5 cm, € 30,00 (D) / € 30,90 (A) / CHF 41,50

Der aus dem Apollo-Tempel in Delphi überlieferten Aufforderung ›Gnoti seauton‹, ›Erkenne dich selbst!‹ wird 100 Jahre nach der Erforschung des Unbewussten durch Sigmund Freud kaum jemand widersprechen. Strittig bleibt wie schon in der Antike, wie die dem griechischen Weisen Chilon von Sparta zugeschriebene und auf den Gott Apollo zurückgeführte Lebensregel zu verstehen ist. Der US-amerikanische klinische Psychologe, Urologe, Paar-, Familien- und Sexualtherapeut David Morris Schnarch (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/David_Schnarch), der in Deutschland durch seine Publikationen ›Die Psychologie sexueller Leidenschaft‹, Stuttgart 1997, 8. Auflage 2016 (vergleiche dazu https://www.klett-cotta.de/buch/Partnerschaft/Die_Psychologie_sexueller_Leidenschaft/5496), ›Intimität und Verlangen‹, Stuttgart 2009, 9. Aufläge 2019, (vergleiche dazu https://www.klett-cotta.de/buch/Partnerschaft/Intimitaet_und_Verlangen/14026), Vorträge, Workshops und Fortbildungen für Therapeuten bekannt geworden ist, ist davon überzeugt, dass sich mit seiner auf den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung aufbauenden Crucible Neurobiologischen Therapie ein neuer Zugang zum Selbst, zur Selbsterkenntnis und zum Verstehen anderer eröffnet hat. 

Als Sexualtherapeut hat Schnarch seine Klienten dafür gewonnen, sich mit den divergierende Facetten ihres  Selbst, ihren sich gegenseitig störenden Aussagen, ihren unvereinbaren Behauptungen und Handlungen und ihren Dilemmata zu konfrontieren, um neue Lösungen für belastende Traumata und eine tiefere Selbsterkenntnis zu finden. Beim Aufkommen der Hirnforschung hat ihn insbesondere die »Theory of Mind« und damit die menschliche Fähigkeit interessiert, die eigenen geistigen Zustände, Bedürfnisse, Ideen, Absichten und Erwartungen und die anderer zu identifizieren. Mit der Zeit begann er, das »Mindmapping«, die Fähigkeit, geistige Landkarten vom eigenen und vom Innenleben anderer zu entwickeln, in seine in der Sexualtherapie erprobte „Schmelztiegel- oder Feuerproben-Therapie“ zu integrieren.

Das Mindmapping hat seine Arbeit der letzten Jahrzehnte nach seiner Aussage exponentiell beflügelt. „So konnte ich die grundlegenden Probleme meiner scheiternden Paare aufdecken und neue Behandlungsweisen für sie entwickeln, um ihnen wirklich zu helfen. Das war die Geburtsstunde der Crucible Neurobiologischen Therapie […]. Das Leben durch die Linse des Mindmapping zu betrachten, half meinen Klienten, sich selbst, ihre Partner und ihre Beziehungen in einem ganz neuen Licht zu sehen. Abgesehen davon, dass lange vermiedene, schwierige Tatsachen an die Oberfläche kamen, waren meine Problempaare eher bereit und fähig, sich ihrer Lebensrealität zu stellen. Selbst wirklich stark belastete Paare aus enorm schwierigen Familienverhältnissen schafften es, ihrer Ehe neues Leben einzuhauchen und gestalteten ihre Beziehungen wertvoller, ihre Familien gesünder und ihre Leben produktiver. Zwei Dinge fielen mir besonders deutlich auf: Nachdem sie erfahren hatten, was es mit dem Mindmapping auf sich hat, blühten die Paare förmlich auf. Sie waren nicht einfach nur glücklicher mit sich selbst und miteinander. Sie erzählten, dass sie nun leichter mit allen wichtigenBeziehungen in ihrem Leben fertigwurden. Viele berichteten, dass ihr allgemeiner Zustand – ihre Gedanken und Gefühle – sich verbessert hatte. Mir fiel auf, dass sie außerdem anders aussahen und auftraten. Sie wirkten gesünder, ihre Augen funkelten lebendig und sie sahen insgesamt ansprechender aus […]. Ich war außerdem verblüfft, wie schnell das alles geschah“ (David Schnarch S. 22 f.).

Die evolutionären Ursprünge des Mindmapping werden heute auf Reptilien zurückgeführt und dienen dem Überleben. „Reptilien und Amphibien haben ein sehr primitives System, mit dem sie das Verhalten ihrer Artgenossen vorhersagen. Stellen Sie sich einen Frosch vor, wie er auf einem Seerosenblatt auf einem Teich hockt und die anderen Frösche um sich herum beäugt. Er versucht, die Informationen herauszufiltern, die seine Überlebenschancen erhöhen. Er will wissen: ⟩Was fressen die anderen Frösche? Ist es eine gute Idee, das auch zu essen? Schaut mich der große Frosch die ganze Zeit so an, weil er mich auffressen oder sich mit mir paaren möchte? Muss ich ihn umbringen oder werden wir Sex haben?⟨ […]. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, verlässt sich der Frosch auf hochspezialisierte Gehirnzellen, die nichts anders tun, als zwei Körperteile der anderen Frösche zu beobachten, nämlich ihre Augen und Münder. Indem er nur die Augen und Münder der anderen Frösche verfolgt, kann er mehr oder weniger genau vorhersagen, was die anderen Frösche tun werden. Und so handhabt es auch die Schlange. Wenn sie eine Maus in die Ecke drängt, beobachtet sie die Augen der Maus, um herauszubekommen, in welche Ecke die Maus wohl rennen wird“ (David Schnarch S. 44).

Kinder verstehen ab vier Jahren, dass sie vorhersagen können, was andere tun werden, wenn sie herausfinden, was denjenigen, die sie beobachten, durch den Kopf geht. Sobald sie wissen, dass ihre Eltern nicht unfehlbar sind, versuchen sie, ihnen Irrtümer und Lügen unterzujubeln. Dadurch werden sie ebenso zu Mindmappern wie Eltern, die ihre Kinder oder Vorgesetzte, die ihre Mitarbeiter traumatisieren. Schnarch setzt anders als bindungsorientierte Therapeuten Empathie und Mitgefühl nicht gleich. „In der sonnigen Welt der Bindungstheorie wird Empathie immer prosozial, wohlwollend und positiv vorausgesetzt und Mindmapping wird als eine durch und durch positive zwischenmenschliche Erfahrung dargestellt. Ein Experte behauptet, 

⟩ … Mentalisieren [Mindmapping] ist immer eine imaginative, intuitive und verspielte Aktivität …⟨. Diese Therapeuten erklären mit keinem Wort, wie es zu traumatischem Mindmapping kommen kann, das entsteht, wenn einem klar wird, dass die Gegenspieler sich sehr wohl ein Bild vom Innenleben ihrer Opfer machen, während sie grausame Dinge tun. Dass ihnen die Auswirkung, die sie auf die Opfer haben, absolut bewusst ist, und dass sie genau das erreichen wollen […]. 

Solche Therapeuten nehmen im Hinblick auf die Eltern, die ihren Kindern wehtun, einen vergleichbar naiven Standpunkt ein. Nehmen wir zum Beispiel Eltern, die ihre Kinder verhungern lassen, sie schlagen, sie in Schränken anketten, sie mit kochendem Wasser verbrühen oder an Heizkörpern verbrennen, um sie zu bestrafen. Oder Eltern, die ihren Kindern gering dosiertes Gift verabreichen, um Aufmerksamkeit zu bekommen, wenn die Ärzte sich den Kopf darüber zerbrechen, was mit den Kindern nicht stimmt. Wenn sie mit extremer Grausamkeit konfrontiert sind, behaupten viele Therapeuten aus der bindungsorientierten Schule entweder, dass diese Eltern nicht wissen, was sie tun, oder dass ihnen jedes Empathievermögen fehle. Mit einem einfachen Wedeln dieses sprachlichen Zauberstabs lassen sie Eltern […] mit ›antisozialer Empathie‹ […] einfach verschwinden“ (David Schnarch S. 174 f.). Aber es gibt antisoziale Empathie und  „Erwachsene, die Kindern wirklich schlimme Dinge antun, handeln absichtlich und nutzen ihr Empathievermögen aus, um das zu tun. Für Kinder, die sich vernachlässigt und missbraucht fühlen, ist die einzige Sache, die schlimmer ist, als sich unsichtbar zu fühlen, die Erkenntnis, dass sie es nicht sind, sondern dass ihre Eltern sie sehen und sie trotzdem verletzen“ (David Schnarch S. 176 f.).

Nach einer Erprobungsphase von 12 Jahren geht Schnarch mit seinem erweiterten Ansatz an die Öffentlichkeit und beginnt, andere Therapeuten in der Crucible Neurobiologischen Therapie auszubilden. ›Brain Talk‹ stellt diese Therapie vor und führt im ersten Teil allgemeinverständlich und an vielen Beispielen in das Mindmapping und seine neurobiologischen Hintergründe ein. Im zweiten Teil legt er die problematischen Folgen der antisozialen Empathie und die Kurz- und Langzeitfolgen von traumatischem Mindmapping offen und im dritten Teil erklärt er, wie sich traumatisches Mindmapping auflösen lässt. Im ersten Anhang stellt Schnarch die am Mindmapping beteiligten Hirnareale, die Neurochemie des Mindmapping und die Störungen vor, die das Mindmapping beeinträchtigen. Ein zweiter Anhang ist dem traumatischen Mindmapping als einer Form der posttraumatischen Belastungsstörung gewidmet, ein dritter den neuroanatomischen Grundlagen der antisozialen Empathie, der Rolle der anterioren Insel und der Frage, was man aus Ekel lernen kann. Ein vierter Anhang stellt therapeutischen Methoden wie dem »Umarmen bis zur Entspannung« und dem »Sex mit offenen Augen« vor, mit denen die Folgen des traumatischen Mindmappings aufgearbeitet, Denkwege im Gehirn neu gebahnt und das posttraumatische Wachstum gefördert werden können (vergleiche dazu David Schnarch https://www.youtube.com/watch?v=de4wmC3UT_o).

Wer nicht die Zeit hat, das Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen, aber die Vorgehensweise und

Hintergründe der Crucible Neurobiologischen Therapie genauer kennenlernen möchte, sollte sich die Kapitel 1 und 2 „Was ist Mindmapping?“ und „Die Neurowissenschaft des Mindmappings“ aus dem ersten Teil und das hochinstruktive 14. Kapitel „Mit destruktiven Menschen umgehen“ aus dem dritten Teil vornehmen: Es skizziert den Weg eines jungen Paars aus der Abhängigkeit von ihren manipulativen Eltern. Die jungen Leute standen kurz vor der Scheidung, weil sich ihre Eltern fortwährend in ihren Weg in die Ehe, in die Ehe und in die Familienplanung eingemischt haben. Nach der therapeutisch begleiteten konfrontativen Auseinandersetzung mit den Eltern wirkte das Gesicht der jungen Frau „gesünder, sie war energiegeladener und ihre Augen leuchteten […]. Sie sagte, dass sich ein Nebel gelichtet hatte und sie endlich klar denken konnte. Sie fühlte sich leichter, als wäre ihr eine Last von den Schultern gefallen […]. Tinas und Andreas’ Ehe verbesserte sich erheblich und basierte jetzt auf erwiesenem Vertrauen. Tinas Interesse an Sex wuchs und Andreas fand sie attraktiver und begehrenswerter. All dies trug zu ihrer gemeinsamen Entscheidung bei, […] ein Kind in die Welt zu setzen. Das nennt man auch posttraumatisches Wachstum, die wertvollen positiven Entwicklungen und der optimistische Blick in die Zukunft, die nach einem Trauma entstehen können […]. Posttraumatisches Wachstum verändert automatisch den Blick auf sich selbst, auf die eigene kleine Welt und die Menschen darin. Diese Veränderung ist insgesamt kein Verlust, sondern ein Gewinn. Sie ermöglicht Ihnen, widerstandsfähig und optimistisch zu bleiben, wenn Sie mit Enttäuschungen konfrontiert sind. Sie fühlen sich befähigt. So erhöht das posttraumatische Wachstum Ihre Differenzierung“ (David Schnarch S. 382 f.). Man hat sich und andere jetzt besser im Blick und ist dabei, seinen eigenen Weg in die Zukunft zu finden.

ham, 6. Mai 2020 

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