Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 9.12.2016 – 19.2.2017 im Museum Folkwang, Essen. Eine
Ausstellung des Deutschen Plakat Museums mit einem Vorwort von Tobias Bezzola und René Grohnert
sowie Texten von Jürgen Döring, Ferenc Jádi und Emil Siemeister

Edition Folkwang /Steidl, Göttingen 2016, ISBN 978-3-95829-300-7, 96 Seiten, 75 Abbildungen, Paperback,
Format 26,5 x 20,5 cm, € 20,00

In Königsdorf, einem typisch burgenländischen Angerdorf im südöstlichen Zipfel von Österreich, wurden
Plakate vor vierzig Jahren anders als sonst üblich eingesetzt und sie haben auch anders funktioniert: Emil
Siemeister hatte nach Grafikstudien an der Kunstgewerbeschule in Graz und an der Universität für
angewandte Kunst in Wien 1977 im Burgenland als freier Künstler zu arbeiten begonnen und das Plakat als
„Zeichensetzung für ein Aufmerksamkeitsgeschehen“ begriffen. „Wie ein Geschändeter trug ich Plakate auf
Vorrichtungen mit meinem Vater durchs Dorf und fixierte sie schließlich vor dem künftigen Schauplatz. So
gut es damals technisch und monetär möglich war, habe ich sie in kleinen Auflagen reproduziert […] und an
Freunde und mir unbekannte Gesellschaften versandt. Im zeitlichen Abstand erfuhr ich, dass sich die
Menschen, die sich an dieses oder jenes Plakat erinnerten, nicht an den Inhalt erinnerten, sondern an die
Form als das gute oder schlechte Plakat. Der Verweis, die Absicht, blieb also am Medium selbst haften!
Wenige Menschen sind der Datenformationen aufgrund der Plakatankündigung gefolgt, zumal auch damals
schon die grafische Darstellungsform an der Grenze zum inhaltlichen Erahnen war. Der phonetische Aspekt
des Rufens schien mir ein lautliches und gefühlsmäßiges Äquivalent zur Bildvorstellung zu sein. Diese
Symbiose war für mich der Inbegriff oder die Essenz des Plakatwillens […]. So kam auch – in
gegenständlicher Sinnübersetzung – das Megafon hinzu, das ich auf das Auto schnallte und in das ich […]
während der Fahrt hineinschrie, ohne dass das Wofür dabei hörbar gewesen wäre. Vielmehr fand ich
zunehmend Gefallen am sichtbaren Erschrecken des zufällig sich öffentlich auf der Dorfstraße bewegenden
Menschen. Parallel zu meiner sonstigen, vornehmlich zeichnerischen Arbeit wurde es nun auch verpflichtend
zu einem Darstellungsereignis, in der Hauptsache Körperdarstellungen (Performances) mit einem Plakat
anzukündigen“ (Emil Siemeister S. 27).

Plakate sind in der Folge bei Siemeister zum Teil eines künstlerischen Gesamtkonzepts und zum Gegenstand
einer ihm eigenen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeit geworden: Neben gedruckten und individuell
weiterbearbeiteten, nummerierten und signierten Kleinauflagen stehen Unikate, neben dem Sieb- der Offsetund
der Digitaldruck, neben unterschiedlichen Papieren vom Löschkarton bis zum Transparentpapier auch
Nylonfolien, die in aller Regel auf der Vorder- und der Rückseite bearbeitet sind. „Für das einfache oder
schnelle Aufnehmen einer Botschaft oder als Assoziationsfläche sind seine Plakate nicht gedacht. Sie
verstecken mehr als sie preisgeben, fordern Aufmerksamkeit und Einlassung und verweigern letztlich doch
den Zugang über das Nötigste hinaus. In diesem Sinn […] sind sie fast so etwas wie Antiplakate unter den
Plakaten“ (Tobia Bezzola, René Grohnert S. 6 f.). In dem zur Ausstellung erschienenen vorzüglich
gestalteten und gedruckten Katalog geht Jürgen Döring, der Leiter der grafischen Sammlung des Museums
für Kunst und Gewerbe Hamburg, der Frage nach, wann Plakate in der Kunstgeschichte als Kunst und wann
sie als Werbemittel und Design verstanden werden. Pragmatisch betrachtet gibt es nach seiner Meinung
Plakate und „es gibt Kunst. 〔 Aber die Zukunft wird zeigen, dass Plakate Kunst sind.〕“ (Jürgen Döring S.
13) Der ungarische Mediziner und Kunsttheoretiker Ferenc Jádi zeichnet Siemeisters
produktionsästhetischen Arbeitsansatz auf dem Hintergrund seiner phänomenologisch orientierten
Bildhermeneutik nach und Siemeister kommentiert sein zu seiner in der Hospitalkirche Stuttgart
aufgeführten Performance Schleuderchor Kondensierte Progressionen 2002 erschienenes gleichnamiges
Plakat ( Auflage 12, in farblichen Varianten, Kugelschreiber und Lack auf Nylon, doppelseitig bezeichnet,
109 x 80,5 cm) und die beiden Fotografien von Helfried Strauß aus der Aufführung (Helfried Strauß,
Schleuderchor Kondensierte Progressionen, Stuttgart 2002, 50,5 x 60,5 cm und 60,0 x 49,0 cm, Barytabzug
als Unikat 〔2010〕) wie folgt:

„Im Vordergrund stand und steht der Ruf des medialen Körpers in seinen Redundanz, Sprödheit und
Sinnlichkeit. Ich wage zu behaupten, dass jeder Form des räumlichen Körpers ein Klang innewohnt. Das
bedeutet, dieser muss entäußert und befreit werden von seiner Stummheit, in einem Zeitprozess überführt
werden in eine Darstellungsform, in der Auditives und Visuelles eine Fusion der Disparatheit eingehen.
Nichts schien spannender und der Sache dienender als die Vorstellung, mit einem groben Korsett, in einer Art
Choreografie, diesen Ablauf öffentlich zu erproben […]. Eine mechanische Bienenschleuder, die synchron
sowohl die Ausdehnung durch die Zentrifugalkraft als auch das Implodieren der Zentrifugalkraft ermöglicht,
war der Nullpunkt einer Erfahrungsform. Das Drehen im Kreis wird manisches Verlangen […]. Bei
fortlaufender Dauer des Erlebens entsteht eine Abhängigkeit […], auch weil Orientierungshilfen – die
Erfahrungen im Raum – außer Kraft gesetzt werden. Jegliches Konzept, jegliches Vorhaben wird in
amorphes Fließen aufgelöst […]. Die Aufführung einer choralen Anordnung […] war getragen von der Idee
einer Energieübertragung in eine Mantelhülle, die angestrichen war mit lichtempfindlicher Emulsion […].
Die geschleuderte zentrifugal wirkende Energie sollte ideell im Mantel absorbiert werden. Getragen von
dieser fluidalen Imagination war damit ein Beitrag zu einer möglichen Form der Materialisierung und
phänomenologischen Behauptung geliefert“ (Emil Siemeister S.29 f.).
Mit den Jahren ist Siemeister zur Überzeugung gekommen, dass sich das Nachdenken über das Rufen der
Plakate vom Signifikanten, vom Bezeichnenden lösen und auf die in den Plakaten anzulegenden
innergesetzlichen Fallen konzentrieren kann. „Die emphatische Wirklichkeit in den Anfängen wurde im
Laufe der Zeit herunterreduziert auf die Befragung. An dieser äußersten Spitze angefasst, löst sich die Idee
vom Signifikanten und zieht jedes Register der innengesetzlichen Fallen. Wenn man diesen Prozess spiegelt
mit der Frage, wie ein Plakat ausgesehen haben könnte, nachdem eine dazugehörige Veranstaltung bereits
beendet ist […], so funktioniert diese Struktur im Sinne einer Grammatologie. Im Denken hat sich ein
konkreter Ablauf für das Vorhaben eingefräst, dieses muss im Rückwärtsgang abstrahiert und von seinen aus
sich selbst bestimmten Elementen befreit werden, um eine autonome innergesetzliche Konstruktion zu
ermöglichen“ ( Emil Siemster S. 30). Damit wird jedes so konzipierte, angefasste und angeschaute Plakat zur
Kunst.

ham, 27. Februar 2017

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