Mai 30

Gert Wiedmaier, Aussicht auf Erinnerung

Von Helmut A. Müller | In Kunst

25 Havanna-Fotografien von Gert Wiedmaier und ein Essay von Jean-Louis Poitevin

Galerie Merkle, Stuttgart / Thomas Masters Gallery Chicago, 2016, 44 Seiten, Broschur, 27
Farbabbildungen, Rückstichheftung, Format 21 x14,8 cm

Kuba hat seinen vormaligen revolutionären Glanz schon lange eingebüßt; es gilt auch nicht mehr
durchgängig als Sehnsuchtsort der Linken. Dass das Leben in Havanna anstrengend ist, hat sich selbst in
Stuttgart herumgesprochen. Architekten, Lehrer, Ärzte und Professoren müssten in Havanna eigentlich mit
ihrem monatlichen Gehalt von rund 25 Euro auskommen. Weil das aber nicht möglich ist, sind sie auf
zusätzliche Einnahmen aus Zweit- und Drittjobs angewiesen. Sie fahren deshalb zum Beispiel auch noch
Taxi. Gert Wiedmaier und Claudia Krüger haben es sich gleichwohl Anfang 2015 nicht nehmen lassen, ihre
umständehalber vor Jahren ausgefallene Hochzeitsreise auf Kuba nachzuholen. In Havanna geblieben wie
Wiedmaiers Künstlerkollege Siegfried Kaden vor zwanzig Jahren sind sie allerdings nicht. Dafür hat Gert
Wiedmaier 25 aufregende Aufnahmen von geschichtsträchtigen Orten und Monumenten wie der Plaza de la
Revolución, dem Treppenaufgang zur Universidad de La Habana, dem Cementerio Cristóbal Colón, dem
Malecon, dem José-Martí-Denkmal und dem Hotel Habana Libre aus Havanna als Erinnerungsstücke
mitgebracht. Er wird die auf das Format 70 x 100 cm vergrößerten Aufnahmen bei nächster Gelegenheit in
der Galerie Merkle in Stuttgart und bei Thomas Masters in Chicago vorstellen.

Der gerade eben erschienene, Claudia Krüger gewidmete Katalog gibt schon jetzt einen ersten Einblick in
die formal und inhaltlich stringente und über den Anlass hinaus symbolträchtige Serie. Anders als in seinen
früheren analog aufgenommenen Mehrfachbelichtungen sind die ursprünglich farbigen Aufnahmen dieser
Serie in der digitalen Kamera direkt übereinander gelegt. Eine Nahaufnahme liegt über einer Fernaufnahme
oder umgekehrt. Dadurch erscheinen die Hauptmotive wie von einer brüchigen Struktur überzogen. In einem
zweiten Schritt wird die Farbe aus den Aufnahmen abgezogen; an die Stelle der natürlichen Farbe tritt in
einem dritten Schritt wie in den Ursprüngen der Fotographie ein eigens eingesetzter Ton. Wiedmaier setzt
auf grün-grau und ruft mit diesem Ton die in Havanna allgegenwärtigen witterungsbedingten Verfärbungen
der Häuser und Monumente ins Gedächtnis. Die Strukturen und die grün-graue Tönung lassen diese auf den
Aufnahmen rissiger und brüchiger erscheinen und verfallener und älter wirken als sie es in Wirklichkeit
sind. Es legt sich deshalb nahe, Wiedmaiers dreifachem Zugriff auf seine Havanna-Aufnahmen als
Symbolisierung des verblassenden revolutionären Glanzes Kubas zu deuten und als Erinnerung an seinen
Verfall.

ham, 28. Mai 2016

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