Kepel, Der Bruch
Aus dem Französischen von Martin Weyerle
Verlag Antje Kunstmann, München 2017, ISBN 978-3-95614-188-1, 240 Seiten, Klappenbroschur, Format 21 x 13,5 cm € 20,00 (D) / € 20,60 (A)

Olivier Roy, „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“
Aus dem Französischen von Christiane Seiler
Siedler Verlag, München, 2017, ISBN 978-3-8275-0098-4, 174 Seiten, Hardcover gebunden mit
Schutzumschlag, Format 22 x 14,3 cm, € 20.00 (D) / € 20,60 (A) / CHF 27,90

Der 1955 in Paris geborene Soziologe, Politologe, Arabist und Islamwissenschaftler Gilles Kepel und der
1949 in La Rochelle geborene Politikwissenschaftler und Diplomat Olivier Roy zählen zu den
herausragenden Exponenten der französischen Debatte über die Ursachen der dschihadistischen Gewalt und
ihre Auswirkungen auf Frankreich und Europa. Kepel spezialisierte sich nach seinem Diplom am Institut d’
études politiques de Paris auf islamistische Bewegungen, verbrachte drei Jahre in Ägypten, führte diverse
Feldforschungen durch und promovierte über die zeitgenössische islamistische Militanz. Nach seiner
Ernennung zum ordentlichen Professor für Politikwissenschaft an der „Sciences Po“ war er für das dort
eingerichtete Masterstudium „Arabische Welt“ verantwortlich. Olivier Roy war nach Studien der
Philosophie, der persischen Sprache und Kultur und der Politikwissenschaft in Paris Berater des
französischen Außenministeriums und 1988 als Berater des Wiederaufbauprogramms der Vereinten Nationen
in Afghanistan tätig, kam dort, also im nichtarabischen Raum mit dem politischen Islam in Kontakt, hat
danach sein Konzept des Postislamismus entwickelt dafür plädiert, den Dschihad als nihilistische Revolte der
jungen Generation zu verstehen. Statt von einer Radikalisierung des Islam sollte man nach Roy von einer
Islamisierung der Radikalität zu sprechen.

Roys Rede vom Dschihad als einer nihilistischen Revolte der jungen Generation erinnert an den 1995
erstmals von Gary Fuller verwendeten, von Gunnar Heinsohn aufgegriffenen und in der Diskussion stark
umstrittenen Begriff des Youthe Bulge (englischen für Jugendüberschuss). Demnach soll ein Überschuss von
jugendlichen Männern zwischen 15 und 24 Jahren in der Bevölkerung (Heinsohn spricht von einem
Überschuss von mindestens 30 % der 15 – 29-Jährigen Männer) die tragende Voraussetzung für
Bürgerkriege, Völkermord, Imperialismus und Terrorismus sein. „Wenn große Teile der männlichen Jugend
zwar ausreichend ernährt sind, aber keine Aussicht haben, eine angemessene Postion in der Gesellschaft zu
finden, stehe ihnen als einziger Weg die Gewalt offen: ›Um Brot wird gebettelt. Getötet wird für Status und
Macht‹“ (Gunnar Heinsohn nach Youth Bulge. In: https://www.google.de/search?source=hp&ei=6-
qoWrbxLpLasAe-nYWIAQ&q=youth+bulge&oq=Youth&gs_l=psy-ab.
1.0.35i39k1j0j0i131i20i263k1j0l2j0i20i263k1j0i10k1j0l3.3419.4959.0.6509.6.5.0.0.0.0.120.565.0j5.5.0….0
…1.1.64.psy-ab..1.5.564.0..0i131k1j0i67k1.0.tFL97imG4DM. Vergleiche dazu weiter Gunnar Heinsohn und
dort den Abschnitt Kriegsdemographie. In: https://de.wikipedia.org/wiki/Gunnar_Heinsohn).

Roys These steht im Widerspruch zu Kepels Annahme, dass es sich bei dem gewaltbereiten Islam um ein
Kontinuum handelt, „das über Generationen weitergegeben wird. Roy stützt sich unter anderem auf die
Beobachtung, dass sich unter den ›Radikalisierten‹ viele Konvertiten finden. Zudem ließe sich nicht von
graduellen Unterschieden zwischen den Strömungen sprechen; schließlich würden Personen, die sich dem
Dschihad anschließen, nicht notwendigerweise eine Phase eines ›moderaten‹ oder auch eines salafistischen,
aber gewaltfreien Islam durchlaufen. ›Die eigentliche Frage ist, wofür diese Jugendlichen stehen: Sind sie
Vorboten der Kriege, die uns noch bevorstehen, oder sind sie Überbleibsel einer Phase historischer
Unruhe?‹“ (Olivier Roy nach Leyla Dakhli, Islamwissenschaften als Kampfsport. Vergleiche dazu http://
www.ufuk.de/islamwissenschaften-als-kampfsport/). Neu in der jüngeren Gegenwart sind nach Roy weder
Terrorismus noch Dschihad. „Verschiedene Formen des ›globalisierten‹ Terrorismus (Schrecken verbreiten,
indem man, über alle Staatsgrenzen hinweg, entweder hochsymbolische Ziele oder ›unschuldige‹ Zivilisten
ins Visier nimmt) entwickeln sich, beginnend mit den Anarchisten, seit Ende des 19. Jahrhunderts und
kulminieren in den 1970er Jahren im ersten synchron operierenden globalen Terrorismus, nämlich in dem
Bündnis zwischen Baader-Meinhof-Bande, linksextremen palästinensischen Gruppen und japanischer Roter
Armee. Aussagen zum Dschihad finden sich im Koran, und in der muslimischen Welt wird regelmäßig
darauf Bezug genommen – besonders mit dem Begriff ›Mudschahed‹, den sowohl die algerische
Befreiungsfront (FNL) als auch die afghanische Widerstandsbewegung benutzt. Neu ist, dass Terrorismus
und Dschihadismus sich mit dem Todeswunsch des Attentäters verbinden“ (Olivier Roy S. 11). Darum geht
es in Roys angezeigtem Buch.

Die Attentäter der 1970er und 1980er Jahre planten ihre Flucht noch sorgfältig. Spätere Terroristen wie der
1995 an der Ermordung des Pariser Imams Sahraoui und an dem Sprengstoffanschlag auf den
Hochgeschwindigkeitszug TGV beteiligte Khaled Kelkal und die Mörder des Terroranschlags vom 15.
November 2015 auf den Pariser Konzertsaal Bataclan jagen sich fast alle „entweder selbst ›in die Luft‹ oder
lassen sich von der Polizei erschießen“ (Olivier Roy a. a. O.).

Für Roy ist deshalb die systematische Verbindung von Terror, Tod und Nihilismus ein möglicher Schlüssel
für die derzeitige Radikalisierung. „Der IS bringt den Terrorismus nicht hervor, vielmehr schöpft er aus
einem bereits vorhandenen Reservoir. Die Genialität des IS besteht darin, dass er jungen Freiwilligen ein
Narrativ zur Verfügung stellt, innerhalb dessen sie sich verwirklichen können. Dabei kommt es dem IS sehr
gelegen, wenn Todessüchtige, die mit ihren Zielen nichts zu tun haben, seien es nun Psychopathen,
Selbstmörder oder andere Personen, die nicht wissen, was sie tun, sich seines Szenarios bedienen, weil es
ihrer Verzweiflung zu einer weltumspannenden Dimension verhilft. Deshalb bevorzuge ich gegenüber einer
chronologischen Herangehensweise, die in den Taten des IS etwas Unveränderliches am Werk sieht, das sich
regelmäßig Ausdruck verschafft (die islamische Gewalt), und deshalb eine Linie vom Koran über Ibn
Taimīya, Hassan al-Banna, Sayyid Qutb und Bin Laden bis zum IS zieht, eine synchrone Betrachtungsweise.
Ich versuche also, die heutige islamische Gewalt in ihrem gleichzeitigen Auftreten mit anderen, ihr sehr
ähnlichen Formen von Gewalt und Radikalität zu verstehen (Generationenrevolte, Selbstzerstörung, radikaler
Bruch mit der Gesellschaft, Gewaltästhetik, Teilhabe des revoltierenden Subjekts an einer
weltumspannenden Erzählung, Weltuntergangssekten)“ (Olivier Roy S. 17). Mohammed Sidique Khan, der
Anführer der Anschläge vom 7. Juli 2005 auf die Londoner U-Bahn, hat seine ihn tragende Motivation in
seinem posthum erschienen Statement in der Linie von Roy in folgender Formel auf den Punkt gebracht: „Ihr
liebt das Leben, wir lieben den Tod“ (Mohammed Sidique Khan zitiert nach Oliver Roy S. 73 f.).

Nach Gilles Kepel hat sich der Dschihadismus dagegen in drei Phasen wissenschaftlich entwickelt: In der
ersten Phase ist der „nahe Feind“ das Ziel, „das sind die arabischen Despoten selbst, und Terrorkampagnen in
Ägypten und vor allem Algerien in den Neunzigern sind die Folge. Als sie scheitert, kommt die Idee des
„fernen Feindes“ ins Spiel: Das sind die USA. Am 11. September 2001 […] kulminiert diese Strategie in den
Anschlägen auf das World Trade Center“ (Leyla Dakhli a. a. O.). Das Internet, YouTube, Facebook und
Twitter erlauben in der dritten Phase die lose Organisation eines kaum gesteuerten Terrorismus von unten.
Dieser Phase sind auch der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo vom Januar 2015, die 86 am
Nationalfeiertag 2016 in Nizza von einem Lastwagen überfahrenen Toten und die Ermordung von Pater
Jacques Hamel bei der Feier einer Messe am 26. Juli 2016 in der Kirche von Saint-Étienne zuzuordnen. Im
„schrecklichen Jahr“ 2015 kam es auch zur ersten „Enthauptung auf französischem Boden, geschehen am 26.
Juni 2015. Nach all den grausamen, in Syrien und dem Irak aufgenommenen Videos von
Geiselenthauptungen durch den IS bricht diese Form der Exekution, die in den Heiligen Schriften des Islam
empfohlen, nun aber von Dschihadisten aus ihrem historischen Kontext herausgelöst wird, plötzlich in das
Leben einer Republik ein“ (Gilles Kepel S. 35). Bei der Ermordung eines Polizisten und dessen Ehefrau am
13. Juni 2016 in Magnanville und bei dem Lastwagenangriff in Nizza haben die Mörder auf banale
Gebrauchsgegenstände wie ein Küchenmesser und einen Lieferlastwagen zurückgegriffen und nicht auf
„Feuerwaffen oder komplizierte Sprengkörper, die für wenig trainierte Terroristen schwer zu beschaffen und
zu handhaben sind“ (Gilles Kepel S. 41).

Diese jüngste Terrorstrategie geht nach Kepel auf den aus Syrien stammenden Musab al-Suri zurück, der
2004 zum globalen islamischen Widerstand aufgerufen hat und europäische Muslime zu Soldaten des
Kalifats machen und für den Jihad rekrutierten will. Kepel bestreitet zwar nicht, dass soziale und psychische
Faktoren für den Erfolg dieses Aufrufs entscheidend sind: Aber „wenn es nicht die Diskriminierung
maghrebinischer Einwanderer der 2. und 3. Generation gäbe, wenn Massenarbeitslosigkeit nicht existieren
würde, könnt sich der radikale Islam nicht ausbreiten. Trotzdem; die Salafisierung der Köpfe ist eine
Vorbedingung. Sie führt zu einem totalen Bruch mit der europäischen Gesellschaft, mit der Aufklärung, mit
der säkularen Zivilisation. Der Salafismus weist Grundwerte wie Demokratie, Freiheit und Gleichheit der
Geschlechter vollkommen zurück […]. Es findet ein eigentlicher Kulturkampf innerhalb des Islam statt. Die
Salafisten müssten die gemäßigten Häretiker auf ihre Seite ziehen, nur so könnten sie von einer kleinen
Avantgarde zur Massenbewegung werden“ (Gilles Kepel, Der IS wird diesen Fehler eher nicht wiederholen.
In: Tages-Anzeiger, 7. Juni 2016).

In seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Der Bruch erinnert Kepel an den Anschlag des Tunesiers Anis
Amri am 16. September 2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin. Der Lastwagen in
Nizza war weiß, der in Berlin von Amri gesteuerte schwarz. „Die Kontrastfarben […] wurden gewählt, damit
sich die Bilder ins Gedächtnis einbrennen und das Entsetzen in der deutschen und französischen
Zivilgesellschaft noch größer wird, und sie spiegeln das graphische Konzept des IS und seiner Flagge, auf
der in Weiß auf schwarzem Grund das doppelte muslimische Glaubensbekenntnis steht […]. In beiden Fällen
nimmt die Operation ›Massenangriff‹ […] zwei Dinge gleichzeitig ins Visier. Zuallererst ein stark
aufgeladenes Symbol: das christliche Weihnachtsfest und sechs Monate zuvor das säkulare Fest der Republik
Frankreich […]. Sie stehen emblematisch für das Christentum und die Aufklärung, die der IS rundweg
verabscheut und […] ausradieren will, so wie er seit 2014 […] zwischen Mossul und Palmyra Kirchen,
Museen und Grabstätten geplündert und dem Erdboden gleichgemacht hat. Damit trifft er zugleich die
europäischen Gesellschaften in ihrem eigenen Leib, in ihrem Alltag, bei den Feiertagen oder an einem
sommerlichen Ferienort, und zielt auf den Konsum und Hedonismus ab, dem der strenge Salafismus, der die
dschihadistische Weltanschauung inspiriert, mit nichts als Hass begegnet“ (Gilles Kepel S. 12 f.).

Am 14. Juni 2016 wird auch Kepel Ziel dieses Hasses : Nach den Morden vom 13. Juni 2016 hat der bereits
wegen dschihadistischer Vergehen verurteilte und wenige Monate zuvor aus der Haft entlassene Larossi
Abballa in einem ins Netz gestellten und dank Facebook Live und den Netzwerken in großem Umfang
verbreiteten Video zu weiteren Morden an Gefängniswärtern, „›auch wenn sie Mohammed heißen‹ […],
Journalisten, […], einem Akademiker und einem Sänger aufgerufen“ (Gilles Kepel S. 43 f.). Der in dem
Ursprungsvideo namentlich genannte Akademiker ist Gilles Kepel. Kepel wird von einem Journalisten, den
er kennt, zeitnah über sein Handy informiert: »Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Sie stehen
auf der Todesliste«. Er habe, so Kepel, das Gefühl gehabt, dass sich das Thema, das er 35 Jahre studiert habe,
gedreht hat, um ihn anzugreifen (vergleiche dazu Robert F. Worth, Der Professor und der Jihad. In: The New
York Times vom 5.4.2017).

ham, 13. März 2018

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