Aug 22

Hedwig Eberle

Von Helmut A. Müller | In Katalog, Kunst

Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 13. März – 8. Mai 2106 im Kunstverein Reutlingen, herausgegeben von Christian Malycha mit einem Essay des Herausgebers

Kunstverein Reutlingen / Wasmuth Verlag Tübingen / Berlin, 2016, ISBN 3-8030-3382-6, 64 Seiten,
zahlreiche, meist farbige Abbildungen, Broschur, Format 30 x 24 cm, € 16,80

Wer auch an nur drei von Lothar Schall in den 1980er und frühen 1990er Jahren an der Universität Tübingen,
im Evangelischen Gemeindehaus am Heininger Weg Backnang und in St. Johann in seinem Atelier auf der
Hochfläche der Schwäbischen Alb angebotenen Workshops teilgenommen und dort mit den von Schall selbst
hergestellten frei fließenden Aquarellfarben auf auf dem Boden ausgelegten Aquarellpapieren experimentiert
hat, kann erahnen, welche enorme Konzentration und Disziplin die Erarbeitung der im Kunstverein
Reutlingen vorgestellte Werkgruppe Ohne Titel von Hedwig Eberle aus dem Jahr 2015 gekostet hat. Die
jeweils 149,05 x126,01 cm großen Arbeiten changieren zwischen Figuration und Abstraktion. Wie Schall
muss die 1977 in München geborene Malerin ihre großformatigen Papiere auf dem Boden liegend bearbeitet
haben. Anders als Schall hat Eberle Acryl und Tusche über den aquarellierten Grund gelegt und damit Zufall
und Setzung zur Balance gebracht. In der Folge bleibt offen, ob die Arbeiten auf dem Hintergrund des
Informell oder als gerade noch erahnbare versteckte Anspielung auf Kopffigurationen gelesen werden
sollen.

Eberle präsentiert ihre Arbeiten anders als Schall ohne Glas. Sie wirken erdiger als die strahlend hellen
Schall-Aquarelle und erinnern in ihrer Grundstimmung an Wüste und Sand und damit an die Werke ihres
Berliner Lehrers Marwan. Marwan Kassab-Bachi stammt aus Syrien und hatte wie Eugen Schöneberg und
Georg Baselitz die Klasse des Tachisten Hann Trier an der Hochschule der Bildenden Künste Berlin besucht.
Schall hat seine bis zu sechs Meter hohen und mehrere Meter breiten großformatigen Aquarelle gerahmt,
übereinander gestapelt und aneinander gereiht, so unter anderem im Congress Center Rosengarten
Mannheim. Eberle liebt es wie schon bei ihren frühen Zeichnungen, Ölmalereien auf Holz und Radierungen
bescheidener und holt das Reihen und Stapeln in ihre Bildgründe herein: Ihre Bildfelder bestehen „nicht aus
einem Stück, sondern setzen sich aus mehreren, aneinander geklebten Einzelblättern zusammen. Das flüssige
Aquarell läuft in die Zwischenräume und setzt sich in den Fugen ab, worauf sich das Papier wölbt und nach
dem Trocknen eine rasterförmige Struktur ausbildet. Durch dieses Raster erhalten die Papierarbeiten eine
unterschwellige geometrische Ordnung, die dem aufbrausenden Rausch der Farbe zugrunde liegt wie das
Notationssystem (der Musik) mit seinen Höhen und Tiefen, Zäsuren und Intervallen“ (Christian Malycha S.
6 ff.). Bei Schalls großformatigen Aquarellen übernehmen die Rahmen diese unterschwellige Funktion.

Während bei Schall die Entmaterialisierung, der Glanz und die Lichtwirkung seiner Aquarellfarben im
Vordergrund stehen, betont Eberle eher deren Erdverbundenheit: Sie setzt wie Marwan und Baselitz auf die
Materialität der Farben und ihre Wirkung in der Fläche. Offen steht oder fließt die Farbe „auf den Papieren,
ebenso zart wie heftig wird sie auf- oder ausgestrichen, gebündelt oder zerstreut. Im Gegensatz zur
Frontalität der Köpfe sind die Arbeiten von allen Seiten her gemalt, so dass sie sich fast schon topografisch
ausbreiten. Um diese immense Ausdehnung beieinander zu halten, sind die Bildkanten wie mit einem
Rahmen ausdrücklich durch einen freigelassenen weißen Rand betont“ (Christian Malycha S. 5). Schall hat
auf freigelassene weiße Ränder verzichtet. Man kann gespannt sein, was man in den nächsten Jahren von der
bayrischen Förderpreisträgerin von 2014 und Favoritin von 2016 noch alles sehen, schreiben und hören wird.

ham, 21. August 2016

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