Mit Texten vom Bruno Latour, Eva Horn, Heather Davis, David Life, Bronislaw Szerszynski, Jean-Paul Thibaud, Gernot Böhme, Peter Sloterdijk, Rosetta Sarah Elkin, Wolfgang Kessling, Anja Thierfelder, Matthias Schuler, Thomás Saraceno und Klaus Klaas Loenhart

Birkäuser Verlag, Basel, 2021, ISBN 978-3-0356-1209-7, 287 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Klappenbroschur gebunden, Format 28,3 x 21 cm, 45,00 €

Der 1969 geborene Diplomingenieur, Landschaftsarchtitekt und Universitätsprofessor Klaus K. Loenhart ist unter anderem durch seinen Entwurf und seine Planung der Großen Olympiachance in Garmisch-Partenkirchen bekannt geworden (vergleiche dazu https://www.terrain.eco/kkl und https://www.terrain.eco/projects). Während seiner Praxis bei Herzog & de Meuron Architekten in Basel und seinem Studium und seiner Lehrtätigkeit zur Landschaftsarchitekturtheorie an der Harvard Graduate School of Design begann er, sich für transdisziplinäres Arbeiten zu interessieren. Für den Wettbewerb zum Österreichischen Pavillon auf der Expo 2015 in Milano hat er im Team „Breathe. Austria“ (vergleiche dazu http://breatheaustria.at/team/) mit Spezialisten aus verschiedenen Fachgebieten zusammengearbeitet. „Auf dieser Basis wurde ein Entwurf erarbeitet, der innovative Ideen rund um das Thema ›Luft‹ in einem Konzept verdichtete: ›Breathe Austria – Ein Pavillon der atmet‹” (a. a. O.; vergleiche dazu https://www.terrain.eco/project/airship-breathe-austria-breathe-in und https://translate.google.de/translate?hl=de&sl=en&u=https://www.archdaily.com/629540/austria-pavilion-nil-milan-expo-2015-team-breathe-austria&prev=search&pto=aue).

Bei der Planung des Pavillons war die allgegenwärtige Präsenz der Luft als Handlungsmacht zu begreifen und die Verschiebung der Designdisziplinen in Richtung des Atmosphärischen und des damit verwobenen Biologischen voranzutreiben. Es galt, „das lebensspendende ›allgegenwärtige Unsichtbare‹ als erweiterte Materialität zu entdecken und, gekoppelt mit mehr-als-menschlichen sensorischen Netzwerken, als ein dicht verwobenes Gebilde sichtbar zu machen und gestalterisch zu fassen. Dazu  [war] eine Vielzahl von Aufmerksamkeiten und Sensibilitäten in Bezug auf die Phänomene und Wirkweisen des Atmosphärischen zu mobilisieren. Bislang formal wenig greifbare und unsichtbare biometeorologische Austauschprozesse [konnten] so zur Grundlage einer atmosphärenbasierten Gestaltung werden – von der Produktentwicklung bis hin zu landschaftsarchitektonischer, architektonischer und urbaner Typologie- und Systementwicklung. Der breathe! Pavillon [verstand] sich als Prototyp im Sinne dieser anstehenden Aufgaben. Als österreichischer Beitrag zur Weltausstellung in Mailand [rückte] er Atmosphäre und Luft als gestalterische, performative und ökologische Ressource in das Zentrum der globalen Aufmerksamkeit. Er [war] dann gewissermaßen ›Proof-of-concept‹ einer sphärenübergreifenden Vorstellung, bei der unsere menschlichen, sinnlichen und biologischen Fähigkeiten und Bedürfnisse performativ mit biometeorologischer Lebendigkeit und Ökologie verschränkt werden. Diese Vorstellung einer sinnlich erlebbaren und bio-resonierenden Atmosphäre [sollte] zugleich Anstöße zu weiterreichenden meteorologischen Planungsansätzen geben. Der systemische Einsatz von responsiver light-Technologie [stand] dabei im engen Verbund mit den meteorologischen und ökologischen Wirkkräften eines natürlichen Systems“ (Klaus K. Loenhart S. 263 f.).

Eine Vielzahl von Bäumen und Pflanzengemeinschaften in den Innenhöfen des Pavillons schufen im Verbund mit maßgefertigten Nebel-Ventilationssystemen bio–performative und mikroklimatische Bedingungen, die der kühlenden Frische von drei Hektar Naturwald entsprechen. Über die „technisch augmentierte, biometeorologische Kühlung hinaus tragen alle vegetativen Prozesse zur Sauerstoffproduktion im Pavillon bei – wie auch zum Stoffwechsel aller organischen Landschaftsbestandteile. Gemeinsam erzeugen sie reine, frische Luft – so viel davon, wie von durchschnittlich 1.303 Besuchern pro Stunde verbraucht werden. Von Radiaton, Konvektion und Konduktion, pflanzlicher Lebendigkeit über klimaperformative pflanzliche Evapotranspiration bis hin zu mikrobieller Durchdringung aller Wesen wird in diesem Prototyp eines augmentierten biometeorologischen Designs die Komposition einer ganzen Reihe von Phänomenen neu verhandelt. Am innigsten spürbar und erlebbar wird diese intrinsische Verbundenheit aller Elemente bei der sinnenbezogenen Erkundung der biometeoroligischen Lebendigkeit“ und ihren Verflechtungen zwischen Raumatmosphäre, Ökologie und sinnlichem Erleben. (Klaus K. Loenhart S. 267 f.). „Der breathe! Pavillon ist … ein Gestaltungsraum mit Potential für eine verhandlungsbasierte politische Ökologie“ (Klaus K. Loenhart S. 271).

Der jetzt vorgelegte, mit Bilderserien zum breathe! Pavillon durchsetze Reader verhandelt die von Peter Sloterdijk und anderen  angestoßene philosophische Wende zu Vorstellungen eines atmosphärischen Weltinnenraums und fragt, welche gestalterischen Aufgaben sich aus den lebensspendenden Verflechtungen des Pflanzlichen mit der Lithosphäre und der Atmosphäre ergeben. Das erste Kapitel diskutiert das Außen, die Luft, in der wir wohnen und atmen und schlägt eine Atem-Ethik vor. Im zweiten Kapitel wird unter anderem an Gernot Böhmes Vorstellung von Atmosphären als räumlichen Trägern von Stimmungen, gemeinsamer Wirklichkeit des Wahrgenommen  und des Wahrnehmenden und entscheidender Wirklichkeit der Ästhetik erinnert. Das dritte Kapitel diskutiert Fragen des biometeorologischen Designs und seiner politischen und technischen Umsetzung. 

Ausgespart bleibt die Beachtung, die die Religionen dem Atem und der Luft beigemessen haben und beimessen (vergleiche dazu etwa https://www.deutschlandfunkkultur.de/bedeutung-des-atmens-in-der-religion-gotteswind-heiliger.1278.de.html?dram:article_id=340871), so auch die Meditation, der Sonnengesang des Franz von Assisi, das Lied „Himmel, Erde, Luft und Meer“ des pietistischen Liederdichters Joachim Neander (1650 – 1680; vergleiche dazu das Evangelisches Gesangbuch 504 und http://docplayer.org/20990229-108-kernlieder-andreas-marti-himmel-erde-luft-und-meer-rg-530.html), die 1854 veröffentlichte „Christlichen Ethik“ des dänischen Bischofs Hans Lassen Martensen, die 1959 veröffentlichte  Sorge des in der Schweiz eingebürgerten deutschen Theologen Fritz Blanke (1900 – 1967) um die Luft, der 1983 in Vancouver begonnene konziliante Prozess christlicher Kirchen zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung (vergleiche dazu  die 2015  https://de.wikipedia.org/wiki/Konziliarer_Prozess) und schließlich auch die 2015 veröffentlichten Enzyklika „Laudato si’“ von Papst Franziskus  (https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html, vergleiche dazu  https://de.wikipedia.org/wiki/Laudato_si’). 

Aus der Fülle der Hinweise sei nur  eine Passage aus Fritz Blanke, Unsere Verantwortlichkeit gegenüber der Schöpfung (1959) wörtlich zitiert:  „Ein drittes Sorgenkind ist die Luft. Die Zusammensetzung der Luft hat sich während der sechs Millionen Jahre des Menschendaseins nicht wesentlich geändert. Aber in den letzten hundert Jahren haben wir Menschen eine bedenkliche Entwicklung heraufbeschworen: Aus Fabrikkaminen, aus den Schloten der chemischen Industrie, aus den Auspuffrohren der motorisierten Fahrzeuge strömen ununterbrochen giftige Abgase in die Atmosphäre. Die Luft wird behandelt wie eine Müllgrube, in die man allen Abfall hineinwirft. An vielen Stellen reichen der Regen und der Wind nicht mehr aus, um die Lufthülle reinzuwaschen. Lähmend liegt der „Smog“, einer großen Dunstglocke gleich, über den Industriezentren. Auch in der Schweiz kennen wir schon die Anfänge dieses Gefälles: Ich denke an die Fluorschäden im aargauischen Fricktal und an die kilometerlangen Rauchschwaden im Tessintal. Die Gefahr steigt noch. Nach Dietrich Högger, Professor für Arbeitshygiene an der Universität Zürich, hat die Verpestung der Luft durch die Auspuffgase der Autos ein solches Maß erlangt, daß eines Tages mit einer Massenvergiftung zu rechnen ist. 

Es ist offenkundig, daß durch menschliche Schuld die urständliche Ordnung von Boden, Wasser, Luft in Verwirrung geraten ist. Das Gleichgewicht der natürlichen Kräfte ist durchkreuzt. Es handelt sich um einen „Ausverkauf“ der Elemente, um eine Liquidierung ursprünglicher schöpfungshafter Gegebenheiten. Der Mensch ist zum Feind seiner eigenen Naturgrundlage geworden. Man sollte meinen, wenn jemand über diesen Angriff auf die Schöpfung erschrecke, so sei es die christliche Gemeinde. Sie glaubt ja an Gott, den Schöpfer, und ist demgemäß zur Verteidigung dessen, was Gott geschaffen hat, aufgerufen. Aber man sieht unter den Christen von einem solchen Erbeben nichts … 

Der Gedanke einer Verantwortlichkeit für die Natur oder für die Elemente wird nirgends vollzogen. Mit einer Ausnahme: Hans Lassen Martensen – der dänische lutherische Bischof, den Kierkegaard zu Unrecht verschrien hat – bringt in seinem Werke „Die christliche Ethik“ 1854) ein Kapitel, das überschrieben ist: „Die praktische Liebe“. Hier handelt er unter anderem von der Liebe zur Natur und zur unpersönlichen Kreatur und schreibt zum Beispiel: „Wenn von Pflichten gegen die Natur die Rede ist, so müssen dieselben, ihrem eigenen, tieferen Sinne nach, als Pflichten gegen den Schöpferwillen aufgefaßt werden, welcher den Menschen zum Herrn der Natur bestimmt und hiermit verpflichtet hat, die Natur in Übereinstimmung mit dem Schöpfergedanken zu behandeln, theils als Mittel zu sittlichen Aufgaben des Menschen, theils als relativen Selbstzweck. Daher ist alle Willkürlichkeit in der Art, die Natur zu behandeln, alles unnütze Verderben, alles mutwillige Zerstören vom Übel und verwerflich. Mit einem Worte können wir sagen: Der Mensch muß die Natur mit Humanität behandeln …“ ( zitiert nach  ›Umwelt – Mitwelt – Schöpfung‹. Texte zur Verantwortung des Menschen für die Schöpfung. Herausgegeben von Gotthard M. Teutsch. Arbeitstext Nr. 29 Stuttgart II/1993 der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschaungsfragen. In: https://www.ezw-berlin.de/downloads/Arbeitstexte_29.pdf).

Man könnte also sagen, dass die von Klaus K. Loenhart  und anderen angestoßenen Erkundungen unserer atmosphärische verflochtenen Zukunft aufgreifen, was in den Religionen angelegt, in der Diskussion um Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung weitergedacht und seither anfangsweise umgesetzt worden ist.

ham, 1. Juli 2021

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