Aus dem Englischen von Petra Pyka

Deutsche Verlags-Anstalt in der Verlagsgruppe Random House, München 2019, ISBN 978-3-421-04786-1, 400 Seiten, zahlreiche Schautafeln und Tabellen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag,

Format 22 x 15 cm, € 26,00 (D) / € 26,80 (A) / CHF 36,50

Angela Merkel hat in der Generalaussprache zum Bundeshaushalt 2020 am 2. November 2019 unterstrichen, dass die Daten der neue Rohstoff sind und dass die Gestaltung der mit der Digitalisierung verbundenen Aufgaben eine der großen anstehenden Aufgaben ist. „Deutschland hat Industrie 4.0 mit als erstes Land nach vorne gebracht. Die Digitalisierung der eigenen Produktion ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist die Vernetzung aller Menschen und vor allem auch Gegenstände auf der Welt. Das muss im Gesundheitsbereich passieren. Das muss beim Umweltschutz passieren. Das muss aber auch für neue Wirtschaftsmodelle passieren […]. Das bedeutet […], dass ich alles digitalisiert vorhanden habe und dass ich weiß, was ich habe […]. Aber damit man daraus neue Produkte machen kann, brauchen wir noch einen Kulturwandel in Deutschland […]. Wir müssen führend in KI sein, in der Künstlichen Intelligenz, in den Algorithmen, die mit diesen Daten arbeiten […]. Hiervon und vom Klimawandel wird weit mehr als von anderen Dingen abhängen, ob wir in 10 oder 20 Jahren noch ein führender Industriestandort sind oder nicht. Die Weichen dafür werden heute gestellt“ (Angela Merkel, Der neue Rohstoff sind die Daten. Debattendokumentation der 129. Sitzung des 19. Deutschen Bundestags am 26. November 2019. In: Das Parlament – Nr. 49–50; 2. Dezember 2019 S. 10).

Klaus Schwab, der Gründer und Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums hätte acht Wochen später auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos ungefähr dasselbe von der Zukunft der vierten industriellen Revolution sagen können. Für ihn ist die Vierte Industrielle Revolution keine Produkt-, sondern eine Systemrevolution, bei der bisher noch kaum jemand über die Langzeitfolgen nachdenkt. In seiner 2016 erschienen gleichnamigen Publikation stellt er fest, dass wir die Geschwindigkeit, das Ausmaß und die unbegrenzten Möglichkeiten dieser neuen Revolution noch immer nicht vollständig verstehen. Sie ergeben sich daraus, dass Milliarden Menschen über mobile Endgeräte miteinander verbunden sind und Rechenleistung, Speicherkapazität und der Zugang zu Wissen in bislang unbekanntem Umfang zur Verfügung stehen und zur Verdrängung bisheriger Wirtschafts-, Geschäfts- und Kommunikationsmodelle führen. „Die vierte Industrielle Revolution geht mit der Transformation ganzer Systeme einher, über Länder, Unternehmen und Branchen hinweg sowie quer durch die Gesellschaft insgesamt“ (Klaus Schwab).

Die erste industrielle Revolution wurde durch den Bau von Eisenbahnen und die Erfindung der Dampfmaschine eingeleitet und führte zur mechanischen Produktion; die zweite wurde durch die Nutzung der Elektrizität und die Erfindung des Fließbandes angetrieben, die dritte durch die Entwicklung von Halbleitern, Großrechnern, Personalcomputern und das Internet. Die vierte Industrielle Revolution basiert auf der digitalen Revolution und verknüpft vielfältige Technologien, die zu beispiellosen Paradigmenwechseln in der Wirtschaft, der Gesellschaft und der individuellen Lebensgestaltung führen. „Sie ändert nicht nur, was wir tun und wie wir es tun, sondern auch, wer wir sind“ (Klaus Schwab).

Deshalb setzt sich Schwab entschieden dafür ein, dass Regierungen, Unternehmer, Wissenschaftler und Vertreter der Zivilgesellschaft einen „Multistakeholder-Ansatz“ anvisieren, der die sich noch entwickelnde Vierte Industrielle Revolution in eine nachhaltige, inklusive Zukunft steuert. „Das Multistakeholder-Prinzip besagt, dass tragfähige Lösungen für komplexe globale Probleme nur möglich sind, wenn Wirtschafts- und Staatenlenker sowie Führungspersönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft und Wissenschaft zusammenarbeiten und auch die jüngere Generationen“ und die Entwicklungsländer eingebunden werden (Klaus Schwab, Die Zukunft der Vierten Industriellen Revolution S. 105). Konsequenterweise waren 2020 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Kinder und Jugendliche wie die in Äthiopien geborene und heute in New York lebende 13-jährige dunkelhäutige Naomi Waller, die 15-jährige in Kanada lebende Autumn Peltier (vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Autumn_Peltier) und Greta Thunberg die eigentlichen Stars, die ein rasches Umsteuern der Weltwirtschaft und die konsequente Realisierung der Klimaziele einforderten, weil „unser Haus immer noch brennt“ (vergleiche dazu https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2020-01/greta-thunberg-davos-weltwirtschaftsforum-wissenschaft-klimawandel). 

Schwab und die Stakeholder von Davos wissen zwar, dass das „Shareholder-Value-Konzept“ am Ende ist und der erwirtschaftete Mehrwert national zwischen Arbeit und Kapital und international zwischen den Ländern gerechter verteilt werden muss. Aber es bleibt völlig offen, ob, wie und wann es dazu kommen kann. So wirkt Schwabs vorderhand überaus vernünftig wirkendes Fazit vor dem Hintergrund der völlig ungleichen politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Möglichkeiten und der eklatanten Machtunterschiede der in den Blick genommenen Beteiligten wie in den Wind gesprochen: „Die Probleme, mit denen wir uns am Anfang der Vierten Industriellen Revolution konfrontiert sehen – wie die Effekte der Automatisierung, die ethischen Fragen von KI und die gesellschaftlichen Auswirkungen der Gentechnik – sind mindestens seit den 1960-er Jahren Teil unseres sozialen Bewusstseins […]. Glücklicherweise haben wissenschaftliche Forschung und vorausschauende Praxis in den vergangenen 50 Jahren Analysewerkzeuge und nützliche soziologische Perspektiven entwickelt, mit deren Hilfe klarer wird, wie Technologien und Gesellschaften einander formen und beeinflussen […]. Sich in diesem komplexen Umfeld richtig zu verhalten, erfordert einen neuen Blickwinkel auf Technologie […]. Dies ist nur zu erreichen, wenn wir die neuen Technologien nicht länger als ›bloße Werkzeuge‹ betrachten, die den Menschen zur Nutzung mit vorherseh- und kontrollierbaren Konsequenzen zur Verfügung stehen. Ebenso wenig können wir uns gegenüber der Komplexität geschlagen geben und Technologien wie exogene, deterministische Kräfte behandeln, die sich unserem Einfluss entziehen. 

Stattdessen müssen sich alle Beteiligten vergegenwärtigen, dass das Ergebnis jeden technischen Fortschritts von der Entscheidung jeder einzelnen Entwicklungs- und Umsetzungsebene abhängt – der des einzelnen Bürgers ebenso wie der des Topmanagers, des gesellschaftlichen Aktivisten, des Großinvestors oder des mächtigen Politikers. Wie sich unsere Entscheidungen als Verbraucher auf die Zukunft der Unternehmen und die verfügbaren Produkte auswirken, so beeinflussen unsere kollektiven Entscheidungen in Technologiefragen die Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft. Technologien werden bei der Lösung vieler unserer heutigen Probleme unweigerlich eine Rolle spielen, doch sie tragen auch zu diesen Problemen bei und schaffen neue. Keine Gruppe kann diese Herausforderung allein bewältigen – und kein Problem ist nur durch die Nutzung von Technologien aus der Welt zu schaffen. Vielmehr müssen wir unsere kollektiven Prioritäten aus einem breiteren Blickwinkel betrachten und gezielt Bereiche stärken, in denen wir gemeinsam positive Veränderungen bewirken können durch Zusammenarbeit, Vertrauensbildung und guten Willen. Die Herausforderungen der Vierten Industriellen Revolution lassen sich nur durch Kooperation und Transparenz überwinden. Wenn wir den Mut aufbringen und uns in den Dienst des Gemeinwohls stellen, besteht durchaus die Hoffnung, dass wir das Wohlergehen und die menschliche Entwicklung weiter vorantreiben können“ (Klaus Schwab, a. a. O. S. 341 f.).

Wenn der von Schwab vorgeschlagene „Multistakeholder-Ansatz“ wider Erwarten international zum Zug kommen sollte, könnte vielleicht sogar eine Wiederentdeckung spezifisch menschlicher Werte und des Glaubens vor der Tür stehen: „Wenn man bedenkt, was das menschliche Wesen ausmacht, so ist es Verstand, Seele und Herz. Was wir in einem Apparat replizieren können, ist Verstand. Aber man wird niemals das Herz replizieren, das für Leidenschaft und Mitgefühl steht. Wie auch nicht die Seele, die uns ermöglicht, an etwas zu glauben. Der Apparat wird nie die Fähigkeit besitzen an etwas zu glauben“ (Time Magazine, 14 January, 2016, 7 Questions With Klaus Schwab by Michael Duffy : „If you think about what a human being is, we exist because of brains, soul, heart. What we can replicate in a robot is the brain. But you never will replicate the heart, which is passion, compassion. And the soul, which enables us to believe. The robot will never have the ability to believe in something.“).

ham, 28. Januar 2020

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