Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, 2021, ISBN 978-3-374-06320-8, 114 Seiten, Paperback, 

Format 21 x 14 cm, € 25,00

Nach Friedrich Nietzsche ist der Mensch das „noch nicht festgestellte Tier“ (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1866, 3. Hauptstück, 62), „etwas, das überwunden werden soll“ (Friedrich Nietzsche, Also starb Zarathustra. Erster Teil, Vorrede,1883) und dazu bestimmt, zum „Übermenschen“ zu werden: „Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe“ (Friedrich Nietzsche, Also starb Zarathustra. Bd.4. Leipzig 1891). Nach dem jüngeren biblischen Schöpfungsbericht wurde der Mensch dagegen zum Bild Gottes geschaffen: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“ (1. Mose 1, 27). 

In den beiden Jahrhunderten nach Nietzsche stehen sowohl die Vorstellung vom Übermenschen als auch die vom Bilde Gottes auf dem Prüfstand. Es ist überdeutlich, dass sich die Vorstellung vom Übermenschen in eine menschenverachtende Ideologie verwandeln kann und dass sich Menschen von Hass schürenden Ideologien dazu bringen lassen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und damit gegen die Menschheit zu begehen. Der bürokratisch organisierte Massenmord an Millionen Menschen in deutschen Konzentrationslagern und die sexuelle Ausbeutung von 200.000 koreanischen und chinesischen Frauen als ›Comfort Women‹ durch die Japaner zeigen Abgründe des Grauens. Auch im 21. Jahrhundert sterben immer noch 149 Millionen Kinder unter fünf Jahren an chronischer Unterernährung; 617 Millionen können nicht lesen und nicht schreiben; 152 Millionen sind als Kinderarbeiter tätig. Drei bis vier Millionen fallen der Kinderprostitution zum Opfer. 2017 wurden 250.000 Kindersoldaten in mindestens 19 Ländern eingesetzt. „Weltweit erschüttert uns die lange verschleppende und vertuschende Aufarbeitung zahlloser Fälle von Kindesmissbrauch in einem patriarchal, gerontokratisch und zölibatär organisierten Klerus“ (Michael Welker S. 24). Kann man da noch sagen, dass der Mensch Bild Gottes sei?

Der 1947 geborene Heidelberger systematische Theologe Michael Welker (vergleiche dazu https://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/theologie/personen/welker.html) geht dieser Frage in seinen 2019 / 2020 gehaltenen Gifford Lectures nach. Nach dem Willen ihres Stifters Adam Lord Gifford sollen die Gifford Lectures das Studium der „natürlichen Theologie fördern, voranbringen, lehren und verbreiten“. Welker sieht sich zwar nicht als natürlichen Theologen und hätte lieber offenbarungstheologisch argumentiert. Aber er nimmt die Herausforderung an, in allgemeiner Weise von Religion zu sprechen, ohne sich auf die biblischen Überlieferungen und Jesus Christus zu berufen. Stattdessen greift er unter anderem auf Hannah Arendts Vorstellung von Natalität, von menschlichen Neuanfängen als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handels zurück (vergleiche dazu Christian Dries, Zwischen Natalität und ‚Muselmann‘ – Hannah Arendt und das Andere der Ordnung. In: ZPTh Jg. 8, Heft 1/2017, S. 23 – 44), weiter auf Karol Wojtylas Anrufung des Geistes bei seiner ersten Messe nach seiner Wahl zum Papst auf dem Siegerplatz in Warschau, auf die Entwicklung des menschlichen Geistes, auf den jungen Hegel und schließlich auch noch auf das paulinische Menschenbild. 

Nach Arendt liegt die Möglichkeit der Rettung der Welt in nichts anderem als in der Möglichkeit, dass sich die Menschheit fortwährend erneuert. Die Fähigkeit, „etwas Neues anzufangen, hat offenkundig etwas damit zu tun, dass jeder von uns durch die Geburt als Neuankömmling in die Welt trat. Mit anderen Worten: Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind“ (Hannah Arendt nach Michael Welker S. 23). Johannes Paul II. hat seine Messe im Juni 1979 mit einem Gebet beendet, das „auf seine Leute geradezu elektrisierend wirkt: ›Und ich rufe, ich, ein Sohn polnischer Erde und zugleich Papst Johannes Paul II., ich rufe aus der ganzen Tiefe dieses Jahrhunderts, rufe am Vorabend des Pfingstfestes: Sende aus deinen Geist! Sende aus deinen Geist! Und erneuere das Angesicht der Erde! Dieser Erde! Amen‹ (Johannes Paul II. nach Michael Welker S. 27). Im Jahr darauf wurde die Gewerkschaft Solidarność gegründet und Polen ungeachtet zahlreicher Rückschläge politisch, sozial und wirtschaftlich in ein freieres Land transformiert. Johannes Paul II hat diesen Transformationsprozess als Antwort Gottes verstanden. „Die Wahrheit und die Gerechtigkeit gewinnen ihren Wert zurück und werden zur dringlichen Herausforderung für alle, die das Geschenk der Freiheit zu schätzen wissen“ (Johannes Paul II.  a. a. O).

Schon kleine Kinder, die sich ihre unmittelbare Umgebung zu erschließen beginnen, auf Gegenstände zeigen und „Da, da!“ sagen, stimmen optische, akustische, motorisch-taktile und imaginative Operationen miteinander ab. „Das ›Da!‹ des Pointings mit Lautgebung kann die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Primärinteressen lenken; z. B. das Interesse des Kindes, einen Gegenstand zu entdecken und sich ihm wiederholt zuzuwenden, oder sein Interesse, die Aufmerksamkeit anderer Menschen zu wecken, und die von der Forschung so genannten ›imperativen‹ Anschlusserwartungen des Kindes wie Lob, Belohnung, Übergabe des Gegenstandes an das Kind etc. … Um … die multimodale Kraft des Geistes zur Organisation eines Menschen zu verstehen, müssen wir zum Geflecht von Denken, Wollen und komplexen ästhetischen Wahrnehmungen der Umgebung kommunikative Prozesse hinzunehmen, die mit der Deixis verbunden sind. Erst dann erhalten wir eine Vorstellung von den überwältigenden Kräften des individuellen Geistes. In all dem aber ist die individuelle konkrete leibliche Existenz Bezugspunkt und Bezugsrahmen. Sie wird einerseits gesteuert durch die multimodal vernetzten Sinne, andererseits durch die sozial interaktiv und sprachlich vermittelten Kommunikationsprozesse sowie die Ausstrahlungskräfte natürlicher und kultureller Umgebungen … Wie kann man sich diese multimodale Kraft des Geistes in sozialen, politischen, akademischen und religiösen Umgebungen vorstellen? Hier bietet der junge Hegel … fruchtbare Einsichten“ (Michael Welker S. 37 f.).

Er will nicht einfach wie seine Freunde aus dem Tübinger Stift Metaphysik betreiben, sondern „der religiösen, moralischen und politischen Ausstrahlung eines ›Geistes des Lebens‹ dienen, der durchaus politisch-materiell ist, aber nicht naturalistisch und vitalistisch verstanden werden darf. Er will den religiösen und moralisch-politischen Ausstrahlungen eines Wesens nachgehen, das höher ist ›als das menschliche Thun in unserem Bewußtseyn‹, um die ›Anschauung der Vollkommenheit desselben zum belebenden Geiste des Lebens zu machen‹“ (Michael Welker S. 42). In seinen auf September 1800 datierten Fragmenten „polemisiert er gegen die Neigung, das Verhältnis vom Endlichen zum Unendlichen zu ›Produkte(n) der blossen Reflexion‹ zu machen … Eine metaphysische Theologie eines jenseitigen Gottes ist ebenso abzulehnen wie eine spekulative Philosophie des absoluten Ich-Subjekts. Demgegenüber betont er, die Religion befasse sich mit der Erhebung des Menschen ›vom endlichen Leben zum unendlichen Leben‹ und ›das unendliche Leben kan man einen Geist nennen‹. Unter Geist versteht er ›die lebendige Einheit des Mannigfaltigen‹. Diesen Geist als lebendige Einheit des >Mannigfaltigen sieht er in freiheitlichen moralischen und politischen Verhältnissen am Werk, deren Konflikte mit unterdrückerischen religiösen Kräften bzw. deren Interdependenzen mit einer dem Geiste der Freiheit verpflichteten Religion ihn brennend interessierten“ (Michael Welker S. 42 f.).

Die Themen Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit sind neben Frieden und Liebe auch klassische Themen der Bibel. Sie werden von Welker als Wirkungen des multimodalen und multipolaren göttlichen Geistes verstanden. Der multimodale und multipolare Zugang zum Geist führt über bisher dominierende bipolare Zugriffe auf Gott und Mensch hinaus und erinnert daran, dass Leben und Natur ambivalente Gefilde sind. „›Leben ist Raub‹, sagt Alfred North Whitehead. Das gilt für alles natürliche, physische Leben, da es gezwungen ist, sich selbst auf Kosten anderen Lebens zu erhalten. Der Apostel Paulus hat deshalb den Dualismus von Fleisch und Geist hervorgehoben … Die fleischliche, biologische Existenz des Menschen ist tatsächlich notwendigerweise räuberisch, und sie ist auch häufig von Illusionen getragen. Sie lebt nicht nur auf Kosten von anderem Leben, sondern meint, sich durch fleischliche Aktivitäten wie Ernährung und Fortpflanzung auf unbestimmt lange Dauer erhalten zu können. An der radikalen Kritik der fleischlichen Existenz bei Paulus hat man Anstoß genommen und ihm leibfeindliche und homophobe Einstellungen unterstellt. Doch dabei wurde übersehen, dass Paulus genial Fleisch und Leib unterscheidet. Der menschliche Leib ist nicht nur das vergängliche und räuberische Fleisch, sondern auch durch Psyche und Geist geprägt. Der Leib fasziniert geradezu durch die Vielzahl seiner Glieder, ihr wechselndes Zusammenspiel, ihre Sensibilität füreinander und ihre vielfältige Ausstrahlung. Er kann als ›Tempel des Heiligen Geistes‹ … angesehen werden und als orientierendes Bild für die Existenz freier geistlicher Gemeinschaften. Die Bitte um den göttlichen Geist … setzt also nicht auf die Natur als solche, und auf irgendwelche Kräfte des Lebens. Sie zielt vielmehr auf qualifizierte schöpferische Kräfte des Lebens“ (Michel Welker S. 32 f.).

Vom göttlichen Geist begabten Menschen entwickeln multimodale Netzwerke, multipolare Zusammenschlüsse und Vorbehalte gegen hierarchische Verhältnisse. Sie denken über Formen der Gewaltenteilung nach. Sie sind deshalb auch offen für die geistgewirkte Fort- und Weiterentwicklung der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens. Diesen Entwicklungen geht Welker in seinen weiteren Vorlesungen zu einer natürlichen Theologie des menschlichen und göttlichen Geistes nach.

Durch den multimodalen Geist der Gerechtigkeit werden Menschen erfüllt und befähigt, in einer von radikal ungleichen und ungerechten Lebensverhältnissen beherrschten Welt „für Gerechtigkeit in Wort und Tat einzutreten. Damit werden sie zum Bild Gottes berufen und erbaut. Sie werden ebenso zum Bild Gottes erbaut …, indem der multimodale Geist der Freiheit sie erfüllt und befähigt, in einer Welt mit vielfältigen persönlichen und sozialen Erscheinungen von Unfreiheit und Unterdrückung moralisch, rechtlich, politisch und in vielfältigen Bildungsprozessen für Befreiung und Freiheit zu kämpfen“ (Michael Welker S. 110 f.). Bei der Suche nach und in der Vertretung und Verteidigung der Wahrheit erkennen sie die inneren Zusammenhänge zwischen dem Wirken des Geistes als Geist der Wahrheit, der Freiheit und der Gerechtigkeit. Im friedlichen Kampf gegen Kräfte der Feindschaft, des Hasses und des Krieges verdichtet sich der multimodale Geist ein weiteres Mal. „In diesem Geist des Friedens in der Nächstenliebe wird die ganze Menschheit zur Würde einer umfassenden Humanität erhoben und mit Kräften begabt, dieser großen Bestimmung zu leben“ (Michael Welker S. 112)

ham, 3. Mai 2021

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