Sep 25

Miriam Cahn, Ich als Mensch

Von Helmut A. Müller | In Katalog, Kunst

Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 12. Juli – 27. Oktober 2019 im Haus der Kunst, München, herausgegeben von der Stiftung Haus der Kunst München mit Beiträgen von Jana Baumann, Tess Edmonson, Natalia Sielewicz, Adam Szymczyk und einem Interview von Patricia Falcuières, Élisabeth Lebovici und Nataša Petrešin-Bachelez mit Miriam Cahn

Hirmer Premium / Hirmer Verlag München / Stiftung Haus der Kunst München, 2019, ISBN 978-3-7774-3359-2, 256 Seiten, 180 Farbabbildungen, Broschur, Einband mit weißer Folienprägung und aufgeklebter farbiger Bildvignette, Format 28 x 22 cm, € 39,90 (D), € 41,10 (A) / CHF 48,70

Wer sich auf die farbglühenden Malereien, die schwarz-weißen Zeichnungen und die Skulpturen von Miriam Cahn im Haus der Kunst in München (vergleiche dazu #miriamcahnHDK) oder vor zwei Jahren in der documenta 14 in Kassel eingelassen hat, wird die Boxerhand nicht vergessen, die ungehemmt auf eine Schläfe oder ein Gesicht knallt. Manchmal boxt ein Mann, der auch noch ein erigiertes Glied hat (Miriam Cahn, o.t., 19. + 24.09.2017, vergleiche dazu https://www.artdates.de/miriam-cahn-das-genaue-hinschauen/miriam_cahn_tretter_o-t-_4364_u4a2620_web/), manchmal eine Frau (vergleiche dazu https://www.google.de/search?sxsrf=ACYBGNSjxi6HiBAXhtdq_dvXFRljO0YyQA:1569328199726&q=miriam+cahn+katalog&tbm=isch&source=univ&sxsrf=ACYBGNSj

xi6HiBAXhtdq_dvXFRljO0YyQA:1569328199726&sa=X&ved=2ahUKEwj9vIWPu-nkAhWoBWMBHUwRA5MQsAR6BAgIEAE&biw=1667&bih=915#imgrc=OO8fChSUNoQE9M:). Sie wisse noch nicht genau, was diese Gestik bedeute, so Cahn im Gespräch mit Christoph Heim (vergleiche dazu ›Ich arbeite nicht für die Ewigkeit‹ unter https://www.bazonline.ch/kultur/kunst/ich-arbeite-nicht-fuer-die-ewigkeit/story/17296547).

Das ist für sie ungewöhnlich, da Cahn sonst um deutliche Ansagen nicht verlegen ist. So hat sie ihre 1979/80 ohne Auftrag auf Pfeiler und Wände der Baseler Autobahnbrücke aufgebrachte Kohlezeichnungen als künstlerische Intervention im öffentlichen Raum verstanden, ihnen den Titel ›mein frausein ist mein öffentlicher Teil‹ gegeben und nach einer Anklage wegen Sachbeschädigung vor Gericht als freie Meinungsäußerung und Grundrecht verteidigt. Sie erhielt eine Strafe von 155 Franken. Als der Richter sie fragte, ob sie bereit sei, sich schuldig zu fühlen, antwortete Sie: „Nein, ich bin nicht bereit, mich dafür schuldig zu fühlen, dass ich meinen Job gemacht habe“ (Miriam Cahn im Katalog S. 220). Mit ihrer Eisprungarbeit von 1985 (vergleiche dazu https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/ausstellung-in-muenchen-die-nackten-bilder-der-miriam-cahn-16283603/miriam-cahns-eisprungarbeit-16284187.html) und ihren Blutungsarbeiten von 1986 ff. (vergleiche dazu Miriam Cahn, L.I.S. ZORN Tiere sterben ⟨bl.arb⟩, 1990: https://www.artbasel.com/catalog/artwork/77968/Miriam-Cahn-L-I-S-ZORN-tiere-sterben-bl-arb und Miriam Cahn, Atombombe ⟨Blutungsarbeit⟩,1991: https://collection.mmk.art/de/nc/werkdetailseite/?werk=1993%2F38) geht sie mit Arbeiten an die Öffentlichkeit, die während ihrer Periode entstanden sind. Die Titel dieser Arbeiten unterstreichen die Herkunft dieser Arbeiten von einer Frau. 1982 entscheidet sie sich kurz vor der Eröffnung der documenta 7 gegen die Teilnahme, weil deren Leiter Rudi Fuchs einen weiteren Teilnehmer entgegen der Absprache in ihren Ausstellungsraum eingeladen und damit die Präsentation von ›WACHRAUM II‹ ihrer weiblichen Zeichen beraubt hat. Dass Adam Szymczyk genau diese Arbeit auf der documenta 14 präsentiert, kann als Korrektur der damaligen Fehlentscheidung gelesen werden (vergleiche dazu Jens Hinrichsens Porträt von Miriam Cahn ›No Bullshit‹ in: https://galeriewolff.com/wp-content/uploads/2017/02/mc_monopol-janv.2017_ger.pdf).

Ihre 400 x 250 cm große Kreidezeichnung auf Pergament ›W+H worldtrade‹ von 1982 (vergleiche dazu https://www.gallerytalk.net/blaue-tiefen/) versteht sich als Kritik am Kapitalismus, ihre Bilder von nackten Flüchtlingsfamilien (vergleiche dazu etwa https://www.artbasel.com/catalog/artwork/56100/Miriam-Cahn-o-t) als ihr Beitrag zur weltweiten Flüchtlingskrise und darüber hinaus als Erinnerung an die eigene Herkunft: Ihr Vater war Jude und ist nach der Flucht aus NS-Deutschland in die Schweiz emigriert. Ihre in Paris geborene Mutter kam mit einem Kindertransport in die Schweiz. „ich wäre nicht“, schreibt Cahn in einem Text von 2015, „wenn meine/ grossmutter mutter meines vaters / nicht 1933 gesagt hätte: – entweder Hitler oder ich!“– / und mit ihren Söhnen aus Deutschland / in die Schweiz fliehen flüchten muss / nicht in die USA mein Vater Sohn viel / lieber in die USA flüchten wollen viel / viel lieber in die USA aber keine / bürgschaft also Schweiz und die / firma in kleinstteilen transferieren“ (Miriam Cahn, Zufall, Palü 2015. Im Katalog S. 43).

Ihre Darstellungen von Sex und Begehren loten nach Tess Edmonson „die ästhetischen Möglichkeiten des ›schlechten Begehrens‹“ aus, eines Begehrens, das sich nicht von Macht trennen lässt und „das im Chaos von Gewalt, (Für-)Sorge und Erotik existiert […]. In einem Interview äußerte Cahn dazu Folgendes: ›Ich hatte immer das Gefühl, dass es nicht stimmt, dass Pornos nur für den männlichen Blick produziert werden und Frauen die Opfer sind, die keine Pornos ansehen […]. Warum sollten wir uns das nicht ansehen?“‹ Das Gemälde ›kuessenmuessen‹ von 2018 zeigt zwei ineinander verschlungene Akte, von denen der eine den anderen gewaltsam packt. Ein kaltes weißes Licht verleiht ihren Köpern Gestalt, und pinke Konturen geben eine Brust und eine Stirn zu erkennen. Die beiden Leiber vermitteln Lust und Gewalt, wohingegen die Gesichter sich in einer wilden, nicht lesbaren Farbspekulation zu verflüchtigen scheinen. Auf dem Gemälde ›hinschauen‹ von 2015 […] sind zwei Akte in einer ähnlichen Palette dargestellt: Ihr niedlichen […] Gesichter sind zu einem irren Grinsen geronnen […]. Durch die stets vorhandene Verbindung zwischen Lust und Gewalt in ihren Darstellungen des Erotischen formulieren Cahns Gemälde ein Plädoyer für die Ambivalenz des Begehrens“ (Tess Edmonson S. 127 f.).

Der Katalog erlaubt einen differenzierten Einblick in alle Werkphasen der Künstlerin, ihre Arbeitsweise und ihr Denken. Er dokumentiert neben ihren Malereien und Zeichnungen ihre Filme und Skulpturen und lässt erahnen, dass auch ein reichhaltiges literarisches Werk existiert.

ham, 24.09.2019

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