Mit Werken unter anderem von Giorgione, Lucas Cranach, Bernardo Strozzi, Nicholas Nixon, Annegret Soltau, Miwa Yanagi, Andres Serrano, Erwin Olaf, Roman Opalka und Melanie Manchot 

Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-496-01627-4, 216 Seiten, 58 Farb- und 47 s/w-Abbildungen, Broschur, Format 24 x 17 cm, € 29,90

Die vorliegende Publikation der Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Sabine Kunstmann geht auf ihre 2017 von der Leuphana Universität Lüneburg angenommene Habilitation ›Die neue Sichtbarkeit des Alters‹ zurück. Kunstmann befragt darin keine ‚Altersbilder‘ im Sinne verdichteter Vorstellungen und Stereotypen des Alters, die sich tradieren, transformieren und in Bildmedien finden lassen, sondern diskutiert, wie und warum die visuellen Artefakte vom Alter gekennzeichnete Körper ins Bild bringen. Dabei werden die Fotografien und visuellen Medien greiser Körper als komplexe Bedeutungsträger und als Schlüssel in und zu einem semantischen Bildfeld verstanden, dessen Erschließung von der Definition und Verwendung der Begriffe Alter, Körper und Bild abhängt. 

Alter wird im Kontext der Arbeit weder als biologischer Fakt noch als feste soziale Rolle verstanden, sondern als ein prinzipiell relationaler Begriff, der jung und alt voneinander trennt und als Instrument sozialer Markierung dient. Alter wird in der Kommunikation performativ hergestellt. Unterschiedliche Altersvorstellungen oder -zuschreibungen können in ein und derselben Person nebeneinander existieren. Derselbe alte Mann kann auf einem Konferenzfoto als Wissenschaftler, auf einem Familienfoto als Großvater und auf einem Dokumentarfoto als Protest-Senior erscheinen. Das moderne Personenkonzept erlaubt die Einbindung all dieser Rollen in einer Identität. Der Körper wird nicht mehr als schicksalhaft vorgegebene Größe gedacht, sondern als ein veränderbares Gut, das der Selbstkontrolle unterliegt. Man ist nicht mehr bloß Körper, sondern hat einen Körper, den es zu perfektionieren, zu bewahren, zu schonen und zu pflegen gilt. Bilder von alternden Körpern sind in biophilen Körperkulturen Repräsentanten des Alterungsprozesses; sie vermitteln eine Nähe zum Dargestellten und erzeugen zugleich Distanz. In den Analysen der Bilder von Alterskörpern geht es also um das Verhältnis von Vor- und Abbildern ebenso wie um die Unterscheidung  zwischen Konzepten des natürlichen Körpers und des Körpers als Ergebnis seiner kulturellen Produktion.  Bilder werden im Sinne von Gottfried Boehm als eigenständige und wirkmächtige Medien verstanden.

Im ersten Kapitel geht es um das Verhältnis von Alter, Schönheit und Ästhetik, um die Reflexion der Gattung Akt sowie um die Rolle der Geschlechterdifferenz in der Wahrnehmung, Darstellung und Rezeption alter nackter Körper. Das zweite Kapitel diskutiert die sexuelle und moralische Dimension alternder Körper auf der Folie komödiantischer, grotesker und misogyner Bildtraditionen und gegenwärtiger Vorstellungen von Praktiken der Verjüngung und der Wiederherstellung des Sexualkörpers. Im Zentrum des dritten Kapitels steht das alternde Gesicht. „Ziel ist es, anhand der untersuchten Bilder den zeitgenössischen visuellen Diskurs des Alters zu entfalten und vor seinem kulturgeschichtlichen Horizont, seinen kunsthistorischen Traditionen und vor dem Hintergrund des fotografischen Dispositivs zu analysieren. Dabei wird sich zeigen, ob die generelle Zunahme von Altersbildern generell als eine Aufwertung der Kategorie Alter zu beurteilen ist“ (Sabine Kampmann S. 28).

Gegenwärtige Altersbilder folgen zwar den unterschiedlichen gesellschaftlichen Regelungsinteressen und dienen damit als Vor-Bilder im Rahmen der performativen Produktion von Altersvorstellungen, tun dies aber in traditonsbesetzten Räumen. „Als besonders wirkungsmächtig […] haben sich die historischen Bildgattungen des Aktes sowie des Porträts erwiesen. Die antike Vorstellung eines Idealkörpers als jugendlich ebenso wie als eine Einheit des Guten und Schönen prägt die Schönheitsvorstellungen bis heute […]. Auch aktuelle Aktdarstellungen alter Menschen setzen sich noch mit diesen Zuschreibungen an den schönen Körper auseinander. Alternde Akte gelten deshalb als skandalöse Körper, weil an ihnen die der Gattung Akt eingeschriebene unsichtbare Altersnorm überhaupt sichtbar wird. Die Produktion neuer, nackter Altersbilder arbeitet immer noch an der Reflexion beziehungsweise Erweiterung der Grenzen der Bildgattung […]. Gattungsbezüge ebenso wie Gattungskonflikte zeigen sich auch an Bildern greiser Gesichter. Diese sind […] mit den widersprüchlichen Forderungen konfrontiert, einerseits ähnlich zu sein und andererseits Merkmale älterer Körper zu vermeiden […], weil sie als hässlich gelten […]“ (Sabine Kampmann S. 173 f.). 

Die traditionelle Verspottung sexuell interessierter alter Frauen in der Figur der ›Alten Vettel‹ wird in gegenwärtigen Bildern von lustbesetzter Alterssexualität aufgegeben und ins Gegenteil verkehrt. „Erklären lässt sich diese konträre Bewertung […] zum einen durch eine gesamtgesellschaftlich gewandelte Sexualmoral […]. Hinzu kommt eine soziale Erwünschtheit von Seiten all jener, die das neue Altersbild des Aktivseniors propagieren. Denn aus dieser Perspektive stellt Sexualität im Alter eine Körpertechnologie dar, die gesundheitsfördernd ist und zu einem selbständigeren, zufriedeneren und längeren Lebensabend beiträgt“ (Sabine Kampmann S. 174). Das Bild des Jungbrunnens nimmt diese Vorstellung schon vorweg (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=jungbrunnen&tbm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwiGjOeiq4roAhXD5KQKHUBgBnIQsAR6BAgIEAE&biw

=1588&bih=888). „Neu an der positiven Einschätzung der Sexualität alter Menschen im 21. Jahrhundert ist jedoch, dass sie als eine Art Kontrollpraktik an die betroffenen Menschen selbst delegiert wird. Durch die Erhaltung und Aktivierung des sexuellen Interesses soll jede und jeder Einzelne sein eigenes möglichst gesundes und autonomes Leben im Alter steuern – und damit auch zu einer Entlastung der sozialen Versorgungssysteme beitragen“ (Sabine Kampmann S. 175).

Zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Bild des greisen Gesichts zeigen dieses als vieldimensionales ›memento senscere‹. Die Porträtserien Hochbetagter sind nicht Vorbilder im Moraldiskurs, sondern Beispiele für ein Jugendlichbleiben im Alter und in diesem Sinn auch Teil einer das ›active aging‹ propagierenden Bildpolitik. Das alte Gesicht wird zum Austragungsort identitätstheoretischer Fragen rund um den körperlichen Alterungsprozess. Mit dem Motiv der Lebenstreppe verbundene überkommene Vorstellungen von auf und ab im Lebenslauf werden ebenso aufgegeben wie die Vorstellung von Großeltern als religiösen Vorbildern und Ratgebern der übernächsten Generation. 

Im Ergebnis steht die gegenwärtige Zunahme von Altersbildern nicht für eine Aufwertung der Kategorie des Alters, sondern ist Ausdruck eines Bedarfs an Neucodierung und Umwertung von Vorstellungen und Bildern alter Menschen. „Interessant ist dabei, dass sich diese Prozesse der Neudefinition zu einem großen Teil entlang längst bekannter Motive vollziehen. Aus der Kunstgeschichte vertraut sind dabei nicht nur das Motiv des Greisenkörpers, sondern auch die spezifischen Modi, in denen dieser zu sehen gegeben wird. An den Bildern der Körper lüsterner alter Frauen (vergleiche dazu etwa Bernardo Strozzi, Vanitas, um 1637: https://www.google.de/search?q=bernardo+strozzi+vanitas&tbm=isch&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwiQuYW1rIroAhXirnEKHfG_Cg4QsAR6BAgKEAE&biw=

1588&bih=888 und Andres Serrano, A History of Sex,The Kiss, 1996: https://andresserrano.org/series/history-of-sex) wurde dabei am deutlichsten, dass der Greisenkörper als eine visuelle, symbolische Form ähnlich der Warburg´schen Pathosformel beschrieben werden kann: Bilder, die Sexualität im Alter zeigen, sind heute erneut in einen Moraldiskurs eingebettet, der jedoch Wertungen der frühen Neuzeit entgegengesetzt ist. Sie sind nun Vor-Bilder des guten Alterns. Auch jenen Bildern, die die Schönheit des alten Gesichts in den Fokus nehmen, ist eine unerwartete Wiederkehr beschieden. Sie haben sich aus den Bewertungsmustern der Tugend und Laster verabschiedet und fungieren nun ebenfalls als Beispiele eines vorbildlichen, jugendlichen Erscheinungsbilds im hohen Alter.

In der Kunst und visuellen Kultur des 21. Jahrhundert wird der alte Körper zu einem Zeichen für Lebenslust und Lebenswillen umcodiert. Dabei wird der Fokus weg von den charakterologischen Deutungen hin zur Vorstellung einer Arbeit am Körper verschoben, die über das rein Physische hinausgeht und auch eine Arbeit am Selbst umfasst. Die Verantwortung für das Aussehen im Alter wird an das Individuum delegiert und das Altern als Lebensprojekt definiert, das möglichst gut zu absolvieren ist.“ (Sabine Kampmann S. 178).

ham, 7. März 2020

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