Herder Verlag, Freiburg, 2020, ISBN 978-3-451-39212-2, 208 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 21 x 13,5 cm, € 20,00

Im ersten der um 166/167 entstandenen satirischen Totengespräche von Lukian von Samosata (vergleiche dazu http://www.zeno.org/Literatur/M/Lukian/Dialoge/Totengespräche/1.+Gespräch) bittet Diogenes den unsterblichen Zwilling Pollux, den Halbbruder von Castor, seinen Hund Menippus bei seinem nächsten Ausflug in die Oberwelt zu ihm in den Hades zu bringen. Er halte sich entweder im Kraneon von Korinth oder im Lyceon zu Athen auf und mache sich dort über die Zänkereien der Philosophen lustig. Wenn er die irdischen Torheiten genug belacht habe, werde er im Hades noch viel mehr zum Lachen finden. Im vierten Totengespräch (vergleiche dazu http://www.zeno.org/Literatur/M/Lukian/Dialoge/Totengespräche/4.+Gespräch) streiten sich der Fährmann Charon, der die Toten mit seinem Kahn über den Styx von der Ober- in die Unterwelt bringt, über die Höhe der Rechnung, die Charon für die Ersatzteile zu bezahlen hat, die ihm Merkur für seinen Kahn geliefert hat. Charon bittet Merkur um einen Aufschub, weil er derzeit zu wenig Tote zu befördern hat. Die Obolusse, die die Angehörigen den Toten für seine Dienste unter die Zunge legen, reichen für die zu bezahlende Rechnung nicht aus. Er werde seine Schulden aber todsicher begleichen, wenn sein Geschäft nach einer Pest oder einem Krieg wieder floriert. Die Totengespräche Lukians sind nach ihrer Übersetzung durch den Humanisten Johannes Reuchlin im Jahre 1495 ins Deutsche und ihre Interpretation durch Erasmus von Rotterdam als literarische Gattung in die europäische Geistesgeschichte eingewandert. Sibylle Lewitscharoffs und Heiko Michael Hartmanns poetischer Streit im Jenseits greifen auf diese literarische Gattung zurück und erweitern sie um Themen, die es wert sind, über den Tod hinaus diskutiert zu werden.

Zu ihrem poetischen Streit über Gericht und Erlösung im Jenseits sind die Stimme von Gertrud Severin, die für die Schriftstellerin und gläubige evangelische Christin Sibylle Lewitscharoff spricht, und die andere Stimme, die für den agnostischen Juristen, Philosophen und Autor Heiko Michael Hartmann steht, nicht über den Styx gekommen und sie haben auch keinen Obolus an Charon bezahlt. Sie kamen nach dem Plot des Streits bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Anfänglich wissen sie nicht, wo sie gelandet sind. Gertrud Severin kennt zwar noch ihren und die Namen ihrer Familienangehörigen und sie erinnert sich genau, dass sie am 17.6.1968 in Stuttgart-Degerloch geboren ist. Aber sie kann nicht sagen, was jetzt mit ihr los ist. „Irgendwie sitze ich auf irgendwas, scheint so jedenfalls. Aber auf was bitteschön? … Alles scheint irgendwie zu sein, scheint aber auch wiederum nicht richtig habhaft zu sein. Komme mir vor, als hätte man mich an der Luft aufgehängt, nein, nicht stranguliert, aber doch irgendwie aufgehängt. Dann wieder komme ich mir vor wie abgestellt, obwohl da kein Boden ist. Mir tut nichts weh, aber der Kopf ist seltsam beisammen“ (Gertrud alias Sibylle Lewitscharoff). Es gibt dann aber gar keinen Kopf, auch keine Füße und keinen Leib. Nur ihre Stimme ist da und zum Glück auch die eines anderen. Sonst wäre sie mutterseelenallein. Gertrud wartet auf ein gnädiges letztes Gericht, die Bestrafung von Massenmördern und die Begegnung mit anderen Seelen; er wartet auf Vergessen, Selbstaufgabe und Erlösung. Er sagt, dass der Tod ihn aus sich selbst herausgezogen habe, er sei tot. Er möchte als Toter in Ruhe gelassen werden und fühle sich doch so, als wäre er noch irgendwie vorhanden. Seinen Namen will er nicht nennen; er lässt alles hinter sich. Er ist nur noch purer Gedanke und er weiß nichts von sich außer dem, was er gerade denkt.

Gertrud stellt sich vor, dass die Leiber der Seligen nach ihrer Läuterung wie in Michelangelos Fresko in der Sixtinische Kapelle in die Höhe gerissen, im letzten Gericht gnädig angesehen und gerecht gesprochen werden. Die von ihnen getrennten Leiber der Menschenschlächter und derer, die mit schweren Sünden belastet sind, werden dagegen in die Hölle und ins Flammenmeer stürzen. Er dagegen hält Michelangelos Fresko, das den Tod und die Hölle als ästhetisches Erlebnis visualisiert, für das Fantasiegebilde eines der bestbezahlten Künstler seiner Zeit, für ein Propagandabild von Kirche und Papst und für einen Widerspruch in sich selbst. „Wir stürzten nicht von der Erde in den Himmel, es war umgekehrt. Und nun, nach all den Mühen irdischen Lebens sind wir auch noch Zerschellte. Jede unserer Anstrengungen, jeder erreichte Erfolg – der Ewigkeit sind sie keines Fingerschnippens wert. Darin besteht der endlose Schrecken des Todes, dass er das Leben nicht nur beendet, sondern ihm jeden Sinn zu entziehen droht“ (Die andere Stimme alias Heiko Michael Hartmann).

Am Ende des ersten Kapitels sinniert er über seinen Tod: „Das also war mein Tod. War oder ist? Vermutlich beides. Denn verwandelt nicht jede Wahrnehmung etwas Gewesenes noch einmal ins Sein? Im Leben hatte ich gedacht, aber nicht mehr im Tod. Doch nun scheint selbst der Tod ein Vorgang zu sein, ein Geschehen, das ich wahrnehmen kann. Wahrnehmen als das Erklingen einer fremden Stimme … Möglicherweise ist diese Stimme selbst das Nichts, das meine Schwäche nutzt, um mich mit treuherzigem Geplapper endgültig auszulöschen, mich, mein Denken, meinen Ernst und alles, was mich jemals ausmachte … Du stelltest dir das Nichts vor und glaubtest ihn zu sehen, deinen Tod, direkt vor dir, kommt er immer näher und näher, näher und näher, so unfassbar nah, bis du endlich verstehst, dass es das Nichts gar nicht gibt“ (Die männliche Stimme).

Beide Protagonisten teilen das Gefühl der Angst. Sie, weil sie auf unheimliche Weise mit sich selbst und der Stille konfrontiert ist, er, weil er ein Reden fürchtet, mit dem man sich betäubt und ein Reden, das die Schärfe des Begriffs scheut. Sie fragt sich, ob sie damit bestraft werden soll, dass sie jetzt an diesen Kerl geraten ist, der ihr unablässig in die Parade fährt. Immerhin hat sie einmal als Jugendliche davon geträumt, ein ganzes Konzentrationslager zu befreien und die Schergen mit Zyklon B zu ermorden. „Meine Selbstgerechtigkeit war jedenfalls stark entwickelt; in erwachsenen Jahren konnte ich sie zwar vor anderen Leuten einigermaßen verbergen, aber in mir glühte sie als inneres Feuerchen ziemlich stark. Deshalb glaube ich auch nicht daran, dass ich einfach so – mir nichts, dir nichts – erlöst werden könnte. Aber dass ich mich vor Gott verantworten muss, der viel schärfer in mich hineinsieht, als ich es vermag, daran habe ich zwar nicht mehr in der Pubertät geglaubt, aber in späteren Jahren kehrte die Vorstellung mit Macht zurück, mich für mein Leben verantworten zu müssen, und zwar für meine Taten wie für meine aggressiven Gedanken“ (Gertrud Severin). 

In Kapiteln wie ›Durch Begreifen zur Erlösung?‹, ›Der Weg zum Heil‹, ›Gottes Wandel‹ und ›Erinnerung an letzte Sekunden‹ nähern sich die Diskutanten in ihrem Schlagabtausch über Gott, Gericht und Erlösung, Glaube und Nicht-Glaube, Hoffnung und Verzweiflung, Schuld und Sühne, die Theodizee und die Frage, was  vom Menschen bleibt, wenn er stirbt, einander immer weiter an und streifen dabei zentrale Lösungsangebote  aus der abendländischen Kultur-, Geistes-, Theologie- und Philosophiegeschichte. Dabei überrascht es, dass die agnostisch und rational argumentierende männliche Stimme auf letztes Verzeihen und Barmherzigkeit setzt und die gefühlsbetonte Gertrud „göttlich durchblendete Gerechtigkeit“ (Sibylle Lewitscharoff) erst nach einem göttlichen Gericht für möglich hält, also erst dann, wenn Unrecht gesühnt und Leiden mit Leiden beantwortet ist.

Als Gertrud vom ›Tödlein‹, einer kindhaften Gestalt mit einem Totenkopf, abgeholt und zu den anderen Seelen geführt werden soll, wehrt sie sich, weil sie nicht einsehen will, dass ihr Gesprächspartner nicht zu den anderen Seelen mitkommen soll. Aber sie kann nicht verhindern, dass sie an der Hand genommen und ohne ihn weggeführt wird. Die andere Stimme bleibt im Warteraum der Zukunft zurück. Dabei hätten er doch Gertrud wenigstens das Schlusskapitel seines Essays vortragen wollen, den er für Nizza ausgearbeitet hatte und den er dort halten wollte. Aber dann sind sie ja vor Nizza abgestürzt. Sein Vortrag hätte mit einer Anspielung auf Kierkegaard geendet. „Verzweifelt man selbst sein wollen und verzweifelt nicht man selbst sein wollen, unterscheidet sich nur auf den ersten Blick. Das ist auch ganz logisch, denn der entscheidende Punkt ist hier nicht, welche Antwort man persönlich auf die Frage nach dem wahren Selbst findet. Das Problem ist vielmehr die Verzweiflung, mit der man seine Antwort in dieser Welt durchzusetzen versucht. Kierkegaard nennt diese Verzweiflung Sünde. Aber er meint auch, zu sündigen sei menschlich, nur wider besseres Wissen in einer Sünde zu verharren, sei teuflisch“ (Die andere Stimme alias Heiko Michael Hartmann).

Die 1954 in Stuttgart-Degerloch geborene und heute in Berlin lebende Sibylle Lewitscharoff hat an der Freien Universität Religionswissenschaften studiert und ist als Literatin unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-, dem Marie-Luise-Kaschnitz- und dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet worden. Der 1957 in Miltenberg geborene Heiko Michael Hartmann arbeitete als Jurist und erhielt 1996 das 3Sat-Stipendium beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt sowie 1999 den Kurd-Laßwitz-Preis für das beste fantastische Hörspiel.

ham, 12. Oktober 2020

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