Thomas Piketty, Kapital und Ideologie 

Aus dem Französischen von André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja Dresler

Verlag C.H. Beck, München, 2020, ISBN 978-3-406-74571-1, 1312 Seiten, 158 Grafiken, 11 Tabellen, Hardcover gebunden mit Lesebändchen, € 39,95 (D) / € 41,10 (A)

Thomas Piketty, Ökonomie der Ungleichheit. Eine Einführung 

Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Lorenzer

C.H.Beck Wissen 2864, Originalausgabe, Verlag C.H.Beck, München, 2016, ISBN 978-3-406-69846-0, 144 Seiten, 9 Tabellen, 2 Grafiken, Broschur, € 8,95 (D) / 9,20 (A)

Mit Thomas Pikettys erstmals 1997 in Frankreich und 2016 überarbeitet auf Deutsch erschienenen ›Ökonomie der Ungleichheit‹ stehen der politische Grundkonflikt um Fragen des Ausmaßes und der Entwicklung der Ungleichheit von Kapital, Arbeit und Arbeitseinkommen und der Instrumente der Umverteilung zur Diskussion. „Auf der einen Seite versichert uns die liberale Position, langfristig seien allein die Kräfte des Marktes, Eigeninitiative und Produktionssteigerung in der Lage, Einkommen und Lebensbedingungen auch und gerade der Benachteiligten zu verbessern. Staatliche Umverteilungsmaßnahmen sollten daher nur in mäßigem Umfang erfolgen und sich auf Instrumente beschränken, die jene segensreichen Marktmechanismen möglichst wenig stören wie z. B. die negative Einkommenssteuer des integrierten Steuer- und Transfersystems von Milton Friedman [1962]. 

Auf der Gegenseite versichert uns die traditionelle, von den Sozialisten des 19. Jahrhunderts und den Gewerkschaften ererbte Position der Linken, allein soziale und politische Kämpfe könnten das vom kapitalistischen System gezeitigte Elend der Benachteiligten lindern. Staatliche Umverteilungsmaßnahmen sollten es daher nicht dabei belassen, zur Finanzierung von Transferleistungen Steuern zu erheben, sondern ins Zentrum des Produktionsprozesses selber eingreifen, um die Funktionsweise des Marktes, die der Aneignung der Gewinne durch die Kapitalbesitzer und den Lohnungleichheiten zugrunde liegt, als solche infrage zu stellen“ (Thomas Piketty, Ökonomie der Ungleichheit S. 7 f.). Wenn man wie Piketty der Auffassung ist, dass Ungleichheit zumindest teilweise Faktoren geschuldet ist, für die man den Einzelnen nicht verantwortlich machen kann, muss eine gerechte Gesellschaft „die Minimalbedingungen und Chancen maximieren, die das Sozialsystem dem einzelnen bietet“ (Thomas Piketty, Ökonomie der Ungleichheit S. 8). 

Im Ergebnis spricht für Piketty vieles dafür, dass die Umverteilung von Kaufkraft zugleich Ungleichheit eindämmen und die Wirtschaftstätigkeit zum Wohle aller beleben kann. Allerdings gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass die Voraussetzungen für das Funktionieren dieses Mechanismus immer erfüllt sind. So führt die Inflation weit weg von jener besten aller möglichen Umverteilungswelten und die Erhöhung der Staatsschuld hat eine zweifelhafte Umverteilungswirkung. Fiskaltransfers schaffen zwar nicht jede Ungleichheit aus der Welt, aber sie sind doch in der Lage, „die ganz reale Ungleichheit der Lebensumstände zu mildern“ (Thomas Piketty, Ökonomie der Ungleichheit S. 138).

Wenn man so will, sind Pikettys auf die ›Ökonomie der Ungleichheit‹ folgenden Veröffentlichungen der weiteren Erörterung seiner Ausgangsthesen gewidmet. Seine mit Anthony Atkinson, Emmanuel Saez und anderen erarbeiteten und seit 2011 online zugänglichen Forschungen zur Einkommensverteilung (vergleiche dazu https://www.gov.uk/dfid-research-outputs/the-world-top-incomes-database und https://wid.world) zeigen, dass die soziale Ungleichheit in den westlichen Industriestaaten nach einem Rückgang zwischen den 1940er und 1970er Jahren ab den 1980ern wieder zugenommen hat. Sein 2013 in der französischen Originalausgabe und 2014 auf Englisch und Deutsch erschienener Weltbestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (vergleiche dazu https://www.chbeck.de/piketty-kapital-21-jahrhundert/product/13923624 und https://www.zeit.de/2019/44/das-kapital-im-21-jahrhundert-dokumentarfilm/komplettansicht) weist anhand von Daten aus 20 Ländern nach, dass Vermögende und Kapitaleigner in aller Regel reicher werden als diejenigen, die von ihrer Hände Arbeit leben müssen. Ein unregulierter Kapitalismus führt zu einer steigenden Vermögenskonzentration und einer stagnierenden Wirtschaft. Sobald die Kapitalrendite r größer als das Wirtschaftswachstum g ist, also die Formel r > g gilt, nimmt die Ungleichheit zu. Wenn aber die Ungleichheit zunimmt, sind der soziale Friede und die demokratische Ordnung gefährdet.

Kritische Stimmen wie die, dass er in seiner Studie „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ westlichen Länder einen unverhältnismäßig großen Raum eingeräumt und politisch-ideologischen Entwicklungen wie eine black box behandelt habe und Vorwürfe wie die, dass er wie ein Herrschaftstechniker argumentiere (vergleiche dazu etwa https://www.heise.de/tp/features/Was-tun-die-Armen-dem-Kapitalismus-an-3368775.html) und den Trend zur Ungleichheit nicht erklären könne, weil er die Profitfrage ausblende (vergleiche dazu https://www.heise.de/tp/features/Was-tun-die-Armen-dem-Kapitalismus-an-3368775.html), werden aufgegriffen und fließen argumentativ in seine jüngste Publikation ›Kapital und Ideologie‹ ein. ›Kapital und Ideologie‹  zeichnet die globale Geschichte der Ungleichheit nach und skizziert Vorschläge, wie sie bekämpft werden könnte. Piketty geht in seiner Publikation davon aus, dass Ungleichheit politisch und ideologisch begründet ist und jede Gesellschaft sie rechtfertigen und gute Gründe für sie finden muss, da andernfalls das gesamte politische und soziale System einzustürzen droht. 

Bereits in spätmittelalterlichen Texten finden sich Begründungsmuster für Ungleichheit. Die christliche Lehre hatte kein Problem damit, dass Kapital ohne Arbeit Einkünfte abwirft. „Diese unausweichliche Tatsache ist die Grundlage für das Kircheneigentum selbst. Sie erlaubt es Priestern, zu beten und über die Gesellschaft zu wachen, ohne den Acker pflügen zu müssen. Sie bildet auch die Basis für das Eigentum überhaupt. Das immer pragmatisch angegangene Problem besteht […] darin, die Investitions- und Besitzformen zu regulieren, sich abzusichern, dass das Kapital seiner besten Verwendung zugeführt wird und dass vor allem eine angemessene soziale und politische Kontrolle des Reichtums und seiner Verwendung besteht, im Einklang mit den sozialen und politischen Zielen der christlichen Lehre.

Dass die Ländereien ihren Eigentümern einen Pachtzins einbringen (oder der Kirche den Zehnten, wenn sie nicht selbst Eigentümer ist), war nie wirklich moralisch oder konzeptuell problematisch. Vielmehr stellte sich die Frage, bis wohin man Investitionen über den Grundbesitz hinaus ausweiten durfte, insbesondere im Handel und im Finanzwesen, und welche Vergütungsformen erlaubt waren“ (Thomas Piketty, Kapital und Ideologie S. 134 f.). In einem Text von Papst Innozenz IV. aus dem 13. Jahrhundert wird erklärt, dass nicht der Wucher das Problem sei, sondern dass „ein zu hoher und zu sicherer Wucherertrag die Reichen dazu bringe, ⟩durch die Verlockungen des Gewinns oder zur Sicherung ihres Geldes⟨ selbiges ⟩in den Wucher statt in weniger sichere Betätigungen⟨ zu stecken. Der Pontifex nennt anschließend Beispiele ⟩weniger sicherer⟨ Betätigungen, etwa die Investition ⟩in Tiere und Ackergeräte⟨, welche ⟩die Armen nicht besitzen⟨, aber für das Wachstum wahrer Reichtümer unabdingbar seien. Er zieht daraus den Schluss, dass der Wucherzins eine gewisse Grenze nicht überschreiten dürfe. Eine Zentralbank, die die Investitionen in die Realwirtschaft erhöhen möchte, würde zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht anders agieren und den Leitzins auf ein Niveau nahe Null absenken“ (Thomas Piketty a. a. O. S. 135).

In der Französischen Revolution wird die auf den Klerus, den Adel und die Bauern aufbauende trifunktionale mittelalterliche Ständegesellschaft durch die Erfindung der Eigentumsgesellschaft abgelöst. Nach dem Beschluss der französischen Nationalversammlung vom 4. August 1789 sollten die Privilegien von Klerus und Adel abgeschafft werden. Die Schwierigkeit bestand darin, eine genaue Liste dieser Privilegien zu erstellen und zu entscheiden, welche entschädigungslos aufzuheben und für welche Entschädigungen zu bezahlen seien, weil die hinter ihnen stehenden Rechte als legitim anzuerkennen waren. Die hoheitlichen Funktionen wurden auf den Staat konzentriert, der Kirchenzehnte abgeschafft und die Kirchengüter ohne jede Entschädigung verstaatlicht; die legitim erworbene Eigentumsrechte wurden erhalten. Adelige wurden für bisher von Bauern und Leibeigenen zu leistenden Frondienste, Bannrechte und Pachten entschädigt. „Es handelte sich […] um den historisch ersten Versuch, eine politische gesellschaftliche Ordnung einzuführen, die auf Rechtsgleichheit beruhte, unabhängig von der sozialen Herkunft […]“; aber „die Lösungen des neuen proprietaristischen Regimes zur Neuordnung der Gesellschaft waren durch vielfältige Widersprüche gekennzeichnet. Man schaffte die soziale Rolle der Kirche ab, ohne einen Sozialstaat einzuführen; man schärfte die Konturen des Privateigentums, ohne Zugang dazu zu ermöglichen etc. Insbesondere in der Schlüsselfrage des ungleich verteilten Eigentums ist das Scheitern der Französischen Revolution offenkundig. Man beobachtet zwar im 19. Jahrhundert einen Austausch der Eliten […], aber die Vermögenskonzentration blieb zwischen 1789 und 1914 auf extrem hohem Niveau.“ (Thomas Piketty, a. a. O. S. 155 f.). 

Damit illustriert die Französische Revolution die Spannung zwischen der realen und nicht zu vernachlässigenden emanzipatorischen Dimension des Eigentums und seiner „Tendenz zur Quasi-Sakralisierung von in der Vergangenheit etablierten Eigentumsrechten […], deren inegalitäre und autoritäre Konsequenzen enorm sein können. Von Anfang an beruht die proprietaristische Ideologie auf einem Versprechen von sozialer und politischer Stabilität, aber auch von individueller Emanzipation durch das Eigentumsrecht, das angeblich allen offenstehe […]. Für das Eigentumsrecht spricht im Prinzip zumindest, dass es sich unabhängig von den jeweiligen sozialen und familiären Hintergründen unter dem gerechten Schutz des Staates anwenden lässt […]. Jeder wird dazu angeregt, das Eigentum mithilfe der eigenen Kenntnisse und Talente größtmöglichen Gewinne tragen zu lassen“ (Thomas Piketty S. 164 f.). „Die große Schwäche der proprietaristischen Ideologie besteht darin, dass Eigentumsrechte aus der Vergangenheit oft vor ernsthaften Legitimationsproblemen stehen. In der Französischen Revolution wurden Frondienste widerstandslos in Pachten verwandelt, und solche Probleme tauchen immer wieder auf, insbesondere bei der Frage der Sklaverei und ihrer Abschaffung in den französischen und britischen Kolonien (die Eigentümer waren unbedingt zu entschädigen, nicht aber die Sklaven) oder bei der Privatisierung nach dem Ende des Kommunismus und dem privaten Raub an natürlichen Ressourcen. Allgemeiner gesagt liegt das Problem darin, dass große, dauerhafte und weitgehend willkürliche Umverteilungen von Vermögen unabhängig von der Frage nach deren gewaltsamer oder unrechtmäßiger Herkunft sich immer wieder zu wiederholen neigen, sowohl in den modernen hyperkapitalistischen Gesellschaften als auch in den alten Gesellschaften […].

Allgemein muss die harte proprietaristische Ideologie als das analysiert werden, was sie ist, ein ausgeklügelter und in einzelnen Punkten potenziell überzeugender Diskurs. Das Privateigentum gehört, wenn seine Grenzen und Rechte richtig bestimmt werden, tatsächlich zu den Institutionen, die es den unterschiedlichen Bestrebungen und Subjektivitäten der Individuen erlauben, sich auszudrücken und konstruktiv zu interagieren. Zugleich ist der Proprietarismus eine inegalitäre Ideologie, die in ihrer härtesten Ausprägung einfach nur eine bestimmte Form von sozialer Herrschaft begründen will […]. Er ist tatsächlich eine recht praktische Ideologie für diejenigen die sich am obersten Ende der Ungerechtigkeitsskala befinden, seien es Individuen oder Nationen. Die Reichsten finden darin Argumente, um ihre Position gegenüber den Armen zu begründen, indem sie auf ihre Mühen und Verdienste verweisen sowie auf das Stabilitätsbedürfnis, von dem die gesamte Gesellschaft profitiere. Die reichsten Länder können auch gute Gründe für ihre dominante Stellung gegenüber den Ärmsten finden, indem sie die angebliche Überlegenheit ihrer Regeln und Institutionen anführen. Doch diese Argumente und Tatsachenbehauptungen […] sind nicht immer sehr überzeugend“ (Thomas Piketty S. 169 f.).

Pikettys Analyse der Eigentümergesellschaft und des als Erweiterung des Proprietarismus im Zeitalter der Großindustrie gedachten Kapitalismus läuft auf die These hinaus, dass ökonomisch gesehen nichts dagegen und politisch gesehen alles dafür spricht, den nach dem Zweiten Weltkrieg in sozialdemokratisch ausgerichteten Gesellschaften begonnenen Weg des Abbaus der bei den Reichtumseliten angewachsenen Einkommens- und Vermögenskonzentration durch temporäres und soziales Eigentum, die Einführung eines Grundeinkommens, eine progressive Erbschafts- und Einkommenssteuern und weiteren Instrumenten der Umverteilung fortzusetzen.

Im Schlusskapitel scheinen dann die Umrisse eines universal gedachten partizipativen Sozialismus für das 21. Jahrhundert auf, der auf Sozialeigentum, Bildung, Wissensverbreitung, Machtaufteilung und transnationale Gerechtigkeit setzt. Piketty ist überzeugt „von der Möglichkeit, über den Kapitalismus und das Privateigentum hinauszugehen, um eine gerechte Gesellschaft auf der Grundlage eines partizipativen Sozialismus und Sozialföderalismus zu schaffen. Der Weg dahin führt über ein System sozialen und temporären Eigentums, das einerseits darauf beruht, dass Stimmrechte in Unternehmen begrenzt und mit den Beschäftigten geteilt werden, und andererseits darauf, dass Eigentum stark progressiv besteuert wird, um eine allgemeine Kapitalausstattung und eine permanente Güterzirkulation zu ermöglichen. Der Weg muss weiterhin über ein System progressiver Einkommensbesteuerung und kollektiver Regulierung von CO2-Emissionen führen, mit dem sich die Sozialversicherungen und das Grundeinkommen, die Ökologiewende und die Durchsetzung eines wirklich gleichen Rechts auf Bildung finanzieren lassen. Und der Weg führt schließlich über die Entwicklung einer Neuorganisation der Globalisierung durch Abkommen über gemeinsame Entwicklung, in deren Zentrum quantitative Zielvorgaben für Sozial-, Fiskal- und Klimagerechtigkeit gehören, von deren Einhaltung das Fortbestehen der Handelsbeziehungen und Finanzströme abhängig gemacht werden muss. Diese Neuordnung des Rechtsrahmens erfordert es, eine Reihe bestehender Verträge zu kündigen, insbesondere die Verträge über freien Kapitalverkehr, die seit den 1980er Jahren geschlossen wurden und die Erreichung jener Ziele verhindern. Sie müssen durch Regeln ersetzt werden, die finanzieller Transparenz, Fiskalkooperation und einer transnationalen Demokratie verpflichtet sind“ (Thomas Piketty, a. a. O. S. 1274 f.).

ham, 30. Mai 2020

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