dtv Verlagsgesellschaft, München, 2017, ISBN 978-3-423-28121-8, 384 Seiten, Hardcover gebunden mit
Leinenrücken und Lesebändchen, Format 21,4 x 14,3 cm, € 22,00 (D) / € 22,70 (A) / CHF 29,90

Seit Hirnforscher wie Wolf Singer, Gerhard Roth und Hans J. Markowitsch begonnen haben, ihre
Forschungen populärwissenschaftlich zu publizieren, hat sich die Vorstellung verbreitet, dass man bei
Gehirnscans dem Denken zuschauen und den Gefühlen auf den Grund gehen kann. So weiß man inzwischen,
dass die Amygdala bei der emotionalen Bewertung und Wiederkennung von Situationen sowie bei der
Analyse von möglichen Gefahren eine zentrale Rolle spielt. Wenn man den Argumenten der
Neurowissenschaftler folgt, entscheidet die Amygdala, ob und wie wir auf die Reize der Um- und Außenwelt
reagieren. „Sie löst Reaktionskaskaden aus, erhöht den Herzschlag, veranlasst Drüsen, Hormone
auszuschüttenden, zieht Muskeln in den Gliedmaßen zusammen oder lässt ein Augenlid blinzeln. Wenn Ihr
Gehirn gescannt wird, während Sie an eine traurige Geschichte denken oder sich ein Foto Ihres
neugeborenen Babys ansehen, wird die Amygdala zu den Bereichen gehören, die im computergenerierten
Bild ›aufleuchten‹“ (Tiffany Watt Smith S. 13). Gleichwohl zeichnet die primär auf biochemische Vorgänge
im Gehirn reduzierte Betrachtung von Gefühlen „ein falsches Bild davon […], was ein Gefühl wirklich
ist“ (Tiffany Watt Smith S. 14).

Für die am »Centre of the History of the Emotions« der Queen Mary University in London arbeitende
Kulturwissenschaftlerin Tiffany Watt Smith lassen sich die Antworten auf die Frage, was Emotionen sind,
weder allein in der Biologie und Biochemie noch allein in der Psychologie finden. „Die Art, wie wir
empfinden, ist ebenso mit den Erwartungen und Vorstellungen der jeweiligen Kultur verwoben, in der wir
leben. Hass, Wut und Sehnsucht können scheinbar den ungezähmtesten, animalischsten Teilen unseres Selbst
entstammen. Doch sie können auch von jenen Dingen geweckt werden, die uns eindeutig zum Menschen
machen: unserer Sprache und den Begriffen, die wir uns von unseren Körpern machen, unseren religiösen
Überzeugungen und unseren moralischen Urteilen, von den Moden und sogar der Politik und den
Wirtschaftssystemen der Zeiten, in denen wir leben. Der französische Adlige François de La Rochefoucauld
kam im 17. Jahrhundert zu der Erkenntnis, dass selbst unsere innigsten Triebe von dem Bedürfnis, mit den
Konventionen Schritt zu halten, bestimmt sein können. ›Es gibt Leute‹, spottete er, ›die nie verliebt gewesen
wären, wenn sie nie von der Liebe hätten sprechen hören.‹ Und ebenso wie Reden, Beobachten und Lesen
Emotionen in unseren Körpern wecken können, können sich dadurch auch unsere Gefühle beruhigen. Die
Baining in Papua-Neuguinea stellen nachts eine Schüssel mit Wasser auf, damit AWUMBUK absorbiert wird,
die düstere Stimmung und die Trägheit, die sich einstellt, wenn ein vielgeliebter Gast gegangen ist. Wie
berichtet wird, funktioniert dieses Ritual immer“ (Tiffany Watt Smith S. 18).

Die von Smith im vorliegenden Band zusammengetragenen und in ihren kulturellen Tiefenbezügen
dargestellten rund 150 Emotionen machen überdeutlich, wie unterschiedlich Emotionen im Laufe der
Geschichte und in unterschiedlichen Kulturen bewertet und gedeutet werden und welche Zuschreibungen mit
ihnen verbunden wird. „Letztlich geht es darum, was man selbst über eine Emotion denkt. Wenn wir über
Emotionen sprechen, brauchen wir […] das, was der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz in den
1970ern als ›dichte Beschreibung‹ bezeichnet hat. Geertz stellte eine elegante Frage: Was ist der Unterschied
zwischen einem Zucken mit den Augen und einem Zwinkern? Beantwortet man diese Frage auf rein
physiologischer Ebene und spricht von einer Reihe von Muskelkontraktionen des Augenlids, dann sind
Zucken und Zwinkern mehr oder weniger das Gleiche. Man muss jedoch den kulturellen Kontext kennen,
um einzuschätzen, was ein Zwinkern ist. Man muss wissen, was Spiel und Scherz, Flirt und Sex sind, und
muss zudem Konventionen wie Ironie und Theatralik verstehen. Für Liebe, Hass, Sehnsucht, Furcht und den
ganzen Rest gilt das ebenso. Ohne Kontext bekommt man nur eine ›dünne Beschreibung‹ dessen, was vor
sich geht, und nicht die ganze Geschichte – und genau diese ganze Geschichte ist es, die eine Emotion
ausmacht“ (Tiffany Watt Smith S. 23).

Als erstes Gefühl wird das in den sanskritischen Veden erstmals erwähnte Gefühl abhiman erörtert, das noch
heute auf dem indischen Subkontinent ein fester Bestandteil der Gefühlswelt ist. Wörtlich übersetzt meint es
den Selbststolz, übertragen den „Schmerz und die Wut, die in uns aufkommen, wenn uns eine Person
verletzt, die wir lieben oder von der wir erwarten, dass sie uns freundlich behandelt. Die Wurzeln dieses
Gefühls sind Schmerz und Schock, aber diese entwickeln sich rasch zu einem heftig gekränkten STOLZ.
Übersetzt wird es daher oft mit ›verletzter Ehre‹ oder ›gehässiger Vergeltung‹ […]. In Indien stellt abhiman
jedoch eine akzeptierte, ja erwartete Reaktion dar“ (Tiffany Watt Smith S. 30 f.). Das wird in der von
Rabindranath Tagore erzählten Kurzgeschichte deutlich, in der die Hauptfigur Chandara von ihrem Mann
fälschlicherweise des Mordes an ihrer Schwägerin bezichtigt wird, weil er seinen Bruder, den eigentlichen
Mörder, retten will. Erstarrt vor kaltem und unversöhnlichem Groll gesteht sie den Mord und lässt sich ins
Gefängnis abführen. Als sie hingerichtet werden soll, bereut ihr Mann, was er getan hat und will sie retten.
Aber ihre Wunde brennt noch zu stark. Sie weigert sich, ihn anzusehen und steigt zum Galgen hoch.

Beim Stichwort Enttäuschung erinnert Tiffany Watt Smith zuerst an den Labrador von Charles Darwin, der
immer dann enttäuscht war, wenn Darwin statt zu einem Spaziergang in sein Gewächshaus gegangen ist: Der
Kopf wurde gesenkt, der ganze Körper sackte zusammen, die Ohren hingen herunter, ›wobei der Schwanz
nicht im Mindesten gewedelt wurde‹. Die Familie nannte seinen Mitleid erregenden Ausdruck
›Gewächshausgesicht‹. Bei einer Enttäuschung wird einem eine Hoffnung genommen, etwa auf eine
erwartete Beförderung. Sie hinterlässt Traurigkeit und Verwirrung. Unter den Ärzten des 18. Jahrhunderts
galten Enttäuschungen als Auslöser von Wahnsinnsanfällen. Noch ein Jahrhundert später plädierten die
Anwälte einer Frau, die einen Mann ermordet hat, weil er eine andere Frau geheiratet hatte, auf „›doppelte
Unzurechnungsfähigkeit‹, zum einen verursacht durch eine merkwürdige körperliche Beschwerde, die
berühmte ›nervöse Gebärmutter‹, und zum anderen aufgrund einer emotionalen Störung: ›enttäuschte
Gefühle‹“ (Tiffany Watt Smith S. 97 f.). Die Frau wurde freigesprochenen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
gingen manche Psychologen so weit, zu sagen, dass Enttäuschung auch nützlich, ja entscheidend für die
geistige Entwicklung sei. Nach Freud wird uns in unseren Familien signalisiert, wir seien Königskinder und
wir sind enttäuscht, wenn wir nicht auf Dauer als solche behandelt werden. Nach Smith ist die
psychoanalytische Sicht zwar bereichernd, aber sie erfasst „doch nicht ganz das beherrschende Gefühl dieser
Emotion, nämlich dass alles schiefgegangen sei. Wenn wir unter dem schmerzhaften Verlust eines
idealisierten Selbstbildes leiden, bleibt nicht notwendigerweise ›die Wahrheit‹ übrig – jedenfalls nicht
sofort –, sondern Leere und Verwirrung“ (Tiffany Watt Smith S. 98 f.).

Der letzte Eintrag ist der Zufriedenheit gewidmet. „Zufriedenheit ist ein unzuverlässiges Gefühl. Sie
schleicht sich davon und lässt uns im Kampf gegen die nagende Unzufriedenheit und die Stiche der Gier
allein. Und wenn sie uns verlassen hat, erscheint es absolut unwahrscheinlich, dass wir akzeptieren können,
was wir haben und sind. Doch dann kommt sie zurückgekrochen – im stillen Glanz eines frühen Morgens, in der
Kneipe, wenn wir im Hafen Fritten essen, und wir erkennen für einen kurzen Moment, dass das Leben wahrlich so, wie
es ist, perfekte genug ist“ (Tiffany Watt Smith S. 347).

ham, 27. Februar 2018
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