Nordheim, 20. Oktober 2018

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde unserer Ausstellungen in der Nordheimer
Scheune, lieber Yongchul,

Yongchul Kim, der 1982 in Südkorea geborene Künstler unserer Ausstellung erinnert mit dem Titel
„Zwischen Schein und Sein“ an Grundfragen der Philosophie und Erkenntnistheorie. Warum ist, warum
existiert überhaupt etwas und nicht nichts? Und: Stehen die Erscheinungen für Schein oder für Sein?

In unserem Kulturkreis hat der Vorsokratiker Parmenides (um 520/515 –460/455 v. Chr.) als erster erklärt,
dass das Seiende ewig und unwandelbar sein muss und nur im reinen Denken zu erreichen ist. Sein und
Denken sind für ihn dasselbe. Die Vielfalt der veränderlichen Dinge, die wir sinnlich wahrnehmen, ist für ihn
nur Schein. Platon (428/427 – 348/347), der Schüler von Sokrates (470 –399), hat diesen schroffen
Gegensatz von Schein und Sein abgeschwächt. Nach Platon gibt es Seiendes und nicht Nichtseiendes.
Dazwischen stehen für ihn die Erscheinungen, die Phänomene. Die Erscheinungen bleiben aber
doppeldeutig. In seinem Höhlengleichnis spricht er den Erscheinungen, die sich wie Schatten auf der
Höhlenwand abbilden, einen gegenüber den Urbildern minderen ontologischen Rang, einen minderen
seinsmäßigen Rang zu. Sie konfrontieren den Betrachter mit einem trügerischen Schein. In seinen späteren
Dialogen haben sie dagegen die Funktion eines enthüllenden Scheins und verweisen auf Wirkliches. Der
Begriff Schein setzt also eine Differenz zwischen Erscheinung und Erscheinendem voraus. Je nachdem, wie
diese Differenz ausgelegt wird, wird im Erscheinen das Erscheinende sichtbar und es enthüllt sich etwas, was
wirklich ist und was man vorher nicht gesehen und gewusst hat, eine Idee oder ein Abbild von einem Urbild
–, oder es zeigt sich schlicht und einfach nichts. Dann ist die Erscheinung nur trügerischer Schein.

Im letzten Buch der Politeia unterscheidet Platon drei Formen der Realität:
1. die absolute, ewige Form eines Gegenstandes, zum Beispiel die eines Bettes.
2. den Gegenstand in Raum und Zeit, also ein konkretes Bett, das ein Schreiner in der Nachahmung des
idealen Bettes gemacht hat und in das man sich hineinlegen und schlafen kann. Und
3. die Abbildung des konkreten Dings, also zum Beispiel eines Bettes, das ein Künstler nach dem hölzernen
Bett gemalt hat.
Die Idee selbst, das Urbild, hat nach Platon Gott geschaffen. Das vom Künstler geschaffene Bild steht hinter
der Idee und dem konkreten Gegenstand allenfalls in dritter Reihe. Es hat gegenüber den wirklichen
Gegenständen nur zwei Dimensionen und gaukelt die dritte vor. Es ist auf Täuschung angelegt und von der
Wahrheit weit entfernt. Niemand würde deshalb nach Platon ein Bild von einem Bett einem konkreten Bett,
in dem man schlafen kann, vorziehen.

Diesen ideengeschichtlichen Ursprung von Schein und Sein vor Augen mag man sich fragen, ob Yongchul
Kim täuschen will, wenn er uns unter dem Titel Zwischen Schein und Sein unter anderem das Bild einer
Krähe, eines Hundes, eines Kindes, des Karl-Marx-Monuments von Chemnitz, das zwischen 1953 und 1990
Karl-Marx-Stadt geheißen hat, das Bild von Helmut Müller, das eines brennenden Zeltes und das eines
womöglich toten Mannes vor Augen stellt, der mit dem Gesicht auf dem Boden liegt.

Ich gehe mit dem Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002) davon aus, dass Yongchul Kim
nicht täuschen, sondern eine Seite der Wirklichkeit zeigen will, die ohne seine Bilder nicht zum Vorschein
kommen würde. Wenn wir uns existentiell auf seine Malerei und seine Zeichnungen einlassen, gewinnen wir
eine Dimension an Wirklichkeit hinzu und erleben eine Art „Seinszuwachs“ (Hans-Georg Gadamer). Wir
lassen uns dann durch seine Bilder in unserer Existenz infrage stellen und müssen uns in der Folge
entscheiden, ob wir unser Leben ändern oder ob wir so weiterleben wollen wie bisher. Ich erkläre an drei
Arbeiten, wie ich das meine.

Yongchul Kims Mann, 210 x 180 cm, Öl auf Leinwand 2018, könnte von uns in der Tradition von Immanuel
Kant (1742 –1804) als ästhetisches Meisterwerk betrachtet werden, das aufgrund seines rundum gelungenen
Zusammenspiels von Gegenstand, Farbe und Form die Aufnahme in eine öffentliche Sammlung verdient. Es
würde bei diesem Zugang zeigen, wie es dem Maler gelingt, die Figuration eines Kopfs aus dem Hinter- und
Vordergrund heraus in durchgehend einheitlichen Farben zu erschaffen, in dieser Malerei in den Farben
Grau, Schwarz, Braun und in der Hautfarbe. Die Arbeit würde dann Malerei als Malerei zeigen. Wir könnten
aber auch der Annahme nachgehen, der Künstler habe an die menschliche Anatomie gedacht, eine Abbildung
aus einem Anatomiebuch mit den Muskelsträngen unserer Gesichtspartien zurate gezogen und das Bild
dieser Muskelstränge nachgezeichnet. Im direkten Vergleich könnten wir feststellen, dass der Künstler kein
Abbild nachgebildet, sondern seine Pinselschwünge frei in den Bildraum gesetzt und mit Farbe und Form
gespielt hat. Wenn er aber auf das Anatomiebuch zurückgegriffen hätte, hätte er uns ein
naturwissenschaftliches Bild vom Gesicht eines Menschen zeigen wollen oder ein Bild, das auf die Materie
verweist, aus der der Mensch gemacht ist.

Man könnte sich schließlich und endlich aber auch vorstellen, dass es dem Künstler darum geht, uns hinter
die geschlossene Hülle der uns umschließenden Haut blicken zu lassen. Dann würde er uns womöglich
zeigen wollen, dass unsere Identität, das Bild, das wir uns von uns selbst machen, unsere innere wie unsere
äußere Wirklichkeit, sehr viel zerrissener und weit weniger einheitlich ist, als wir es uns im Normalfall
zugestehen. Er könnte uns dann zeigen, dass wir als Leib-seelisch-geistige Einheit auch von einem Körper
abhängig sind, der uns spätestens mit 80 Jahren signalisiert, dass wir endlich sind. Wir sind in die Welt
geworfen, sind Dasein, sind hinfällig und müssen uns deshalb zu unserer Endlichkeit verhalten (Martin
Heidegger). Deshalb wäre es sicher nicht verkehrt, mit Psalm 90,12 zu sprechen: „Lehre uns bedenken, dass
wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“.

Ein zweites Beispiel: Yongchul Kims Malerei Spiegelung (Marx’ Statue), 40 x 30 cm, Öl auf Leinwand, 2018
könnte uns im Sinne von Platons dreistufiger Vorstellung von Realität als Bild der weltweit zweitgrößten
Monumentalskulptur erscheinen. Die am 9. Oktober 1971 in Leipzig eingeweihte Bronze des sowjetischen
Bildhauers Lew Kerbel ist 7,1 Meter hoch, mit ihrem Sockel 13 Meter, wiegt 40 Tonnen und steht vor einer
Wand, an der in verschiedenen Sprachen das Marx-Zitat „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ steht.
Das Marx-Monument ist seit 1971 zur Hintergrundkulisse aller Festumzüge und Massenveranstaltungen in
Karl-Marx-Stadt geworden. Dass die Monumentalskulptur nach der Chemnitzer Messerstecherei in der
Nacht vom 26. August 2018 und dem Tod eines Deutschen zur Kulisse für Hetzjagden auf Ausländer und
rechtspopulistische Demonstrationen geworden ist, hätten sich Karl Marx und Friedrich Engels bei der
Verfassung des Kommunistischen Manifest um die Jahreswende 1847/1848 nicht vorstellen können. Das
Weinrot mit leicht braunem Unterton im Vordergrund von Kims Malerei, das den Sockel des Marx-
Monuments verdeckt und wie eine welle oder Flut an ihm vorüberzieht, stünde dann für die perversen
Hetzjagden auf Ausländer und die Demonstrationen der Rechtspopulisten am 26.8., 27.8. und 1.9. 2018 in
Chemnitz. Ist Kims Malerei nur Schein, wenn es in Teilen der Bevölkerung immer noch eine Art „braune
Grundierung“ gibt? Oder deckt sie etwas auf, was wir uns nur schwer zugestehen?

Schließlich ein drittes Beispiel: Yongchul Kims Großformat In der Nacht, 200 x 360 cm, Öl auf Leinwand,
2018 zeigt ein brennendes Zelt und eine nächtliche Szene im Winter. Es spielt auf den versuchten
Brandanschlag vom 27. September 2015 auf das für die Unterbringung von Flüchtlingen errichtete Zelt im
Bremer Stadtteil Blumental an und darüber hinaus auf vergleichbare Brandanschläge am 19. Februar 2016
auf ein Roma-Zelt in Oberösterreich, am 8. Juni 2013 auf eine Zeltstadt für Obdachlose und am 20. Juni
2014 auf das Info-Zelt für Refugiés auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Gewöhnlich nehmen wir all
dieses zur Kenntnis, bringen vielleicht unsere Empörung im eigenen Bekanntenkreis zum Ausdruck und
gehen dann wieder zur Tagesordnung über. Indem Yongchul Kim diese Ereignisse in seinen Bildern spiegelt
und in seine Form der Malerei transformiert, bewahrt er sie für die Zukunft auf und gib damit uns und jedem
künftigen Betrachter die Möglichkeit, mit ihm in das Geschehen einzusteigen, das ihn bei seiner Malerei
umgetrieben und ihn zu seiner Malerei motiviert hat. Wenn wir auf dieser existentiellen Ebene nacherleben,
was er beim Malen erlebt hat, sehen wir uns wie Rainer Maria Rilke vor die Herausforderung einer Kunst
gestellt, die uns auffordert, unser Leben zu ändern. Rilke hat diese Herausforderung 1908 in seinem Gedicht
Archaïscher Torso Appollos in dem Satz „Du musst dein Leben ändern“ zusammengefasst:

Rainer Maria Rilke
Archaïscher Torso Apollos
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Helmut A. Müller

P.S.: Die Bilder von der Eröffnung stammen von Gerd Tollnek, die Ausstellungssituationen von Helmut A. Müller

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