Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Lettischen Nationalmuseum der Kunst in Riga vom 17.6. – 21.8.2016 mit Texten von Mark Gisbourne, Christoph Tannert, Ojārs Spārītis und Künstlerbiografien von Sabine Ziegenrücker

Latvian National Museum of Art / Kerber Verlag, Bielefeld, 2016, ISBN 978-3-7356 0258-9, 192 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover, gebunden, dreiseitig auf Buchblockformat 29 x 23 cm beschnitten, € 40,00 / CHF 49,12

 

Jens Hinrichsen leitet seine Rezension der Themenschau ‚Wahlverwandtschaften. Deutsche Kunst seit den späten 1960er Jahren’ in der renommierten Kunstzeitung Monopol mit einer knappen, aber treffenden Skizze von Ruprecht von Kaufmanns in grauen und blau-violetten Tönen gehaltenen Großformat „Die Gefangenen“ ein, vergleicht es mit den übrigen 76 von Mark Gisbourne für die Schau ausgewählten Arbeiten und schließt, dass sie durch ihre schiere Größe verbunden sind: „Aus einer nebligen, von flachem Wasser überschwemmten Landschaft ragt ein Kubus. Auf dem Klotz aus Mauersteinen ist oben Stacheldraht angebracht. Seltsamerweise stecken »Die Gefangenen« des Gemäldetitels nicht im Inneren des Gemäuers. Vielmehr umrundet eine Schar Männer in orangefarbener – also typisch US-amerikanischer –Gefängniskluft den Kubus, als kreisten Trabanten um einen Planeten. Ist Ruprecht von Kaufmanns Gemälde ein typisch deutsches Bild? Was es mit anderen Gemälden und Wandarbeiten in der Gruppenschau »Wahlverwandtschaften. Deutsche Kunst seit den späten 1960er Jahren« verbindet, ist die schiere Größe, es ist fünfeinhalb Meter breit und zwei Meter 70 hoch. Andreas Gurskys Foto des Aletschgletschers, Holzschnitte von Anselm Kiefer oder Gert und Uwe Tobias, Gemälde von Albert Oehlen, Jonathan Meese, drei Werke von Sigmar Polke, ein Cinemascope-Gemälde von Neo Rauch, eine Gold- und-Silberfolien- Assemblage von Anselm Reyle: Monumentalität ist eine feste Größe in der ersten umfassenden Ausstellung deutscher Gegenwartskunst in Riga“ (Jens Hinrichsen, Was ist deutsche Kunst? In: Monopol – Magazin für Kunst und Leben, siehe http://www.monopol-magazin.de/chronik-einer-patchworkfamilie).

Auch Bernhard Schulz vom Tagesspiegel fragt, was die 77 Arbeiten zusammenhält. „Gibt es denn überhaupt ein gemeinsames Band, das so unterschiedliche Arbeiten wie Karl Horst Hödickes überschäumend fröhliches Maueröffnungsbild »Sturm aufs Brandenburger Tor« aus dem Winter 1989/ 90 mit der düsteren Vergangenheitsbeschwörung Anselm Kiefers in »Dem unbekannten Maler« von 1982 zusammenhält? Den spielerischen Witz Sigmar Polkes mit dem rätselvollen Tiefsinn Neo Rauchs, dessen hier gezeigter »See« das Inventar seines post-sozialistischen Realismus versammelt? Zumindest setzt Gisbourne, dieser fröhliche Kunst- und Menschenverbinder, nicht auf die naheliegende (Fehl-)Interpretation deutscher Kunst als grundsätzlich melancholisch bis depressiv“ (Bernhard Schulz, Unter Wahlverwandten. In ‚Der Tagesspiegel’ vom 4.7.2016, siehe http://www.tagesspiegel.de/kultur/ausstellung-in-riga-unter-wahlverwandten/ 13821666.html). Schulz bleibt eine Antwort auf seine eigene Frage schuldig, was nicht weiter verwundert: In den mittleren 1960er Jahren sind die verbindenden Gewissheiten der Moderne endgültig verdampft und dem Expressionismus vergleichbare Schulen gab es schon lange nicht mehr. Was soll also die 53 Einzelpositionen der Ausstellung verbinden?

Mark Gisbourne hat sich für das Goethes gleichnamigen Roman entlehntes Stichwort Wahlverwandtschaften entschieden, das auch auf seine „Verwendung in der Chemie und damit auch der Alchemie“ verweist. „Dass eine kleine Serie ausgesuchter Zeichnungen von Joseph Beuys aus den 1960er Jahren den Auftakt der Ausstellung bildet, dient nicht nur dem Zweck, die thermischen Anspielungen dieses herausragenden Künstlers heraufzubeschwören. Die Verwendung mit der Alchemie assoziierter Materialien, verbunden mit einem Gefühl des archaischen Mysteriums, ist äußerst aussagekräftig für Beuys‘ künstlerische Entwicklung […]. Beuys’ materielle Subjektivität bietet einen idealen Einstiegspunkt für die Betrachtung der […] Deutschen Kunst seit den späten 1960er Jahren. Zugleich hebt sie den gesteigerten Sinn für Materialität hervor, der sich in vielen Werken der deutschen Kunst nach 1960 findet“ (Mark Gisbourne S. 126).

Als deutungsoffene, aber locker ordnende Überschrift führt Gisbourne für Arbeiten wie Rainer Fettings Narcis von 1986, Daniel Richters Die Verschiffung des Guten von 2003 oder Jonathan Meeses Dr. Gnaeus- Saalys von 2004 die Überschrift Expression, Imagination und Subjektivität ein. „Die Bilder von Rainer Fetting […] sind ein paradigmatisches Beispiel für die neuartigen Gefühle, die damals weithin zum Ausdruck gebracht wurden. Und in Berlin trat bei Fetting ein stärker Akzent auf männliche Akte, Bilder von sexuellen Begegnungen, Ängsten und Obsessionen hervor, außerdem eine ganz eigene Vorliebe für Ironie, der er durch rasche Pinselstriche und große Farbflächen intensiv Ausdruck verlieh […]. Daniel Richters Bilder waren anfänglich sehr farbexpressiv, jedoch abstrakt. Erst 2002 wechselte er zum Gegenständlichen […]. Zwar klingen im Werk von Daniel Richter häufig Themen wie Überwachung und Ausbeutung an, es besitzt jedoch auch eine grafische Linearität, in der sich ein traditioneller deutscher Hang zur Romantik mit Videospielen und Material aus Massenmedien verbindet […]. Jonathan Meese hat mit seinen Bildern, Skulpturen und Grafiken eine expressive, theatralisch-performancehafte Richtung eingeschlagen. Mit dicken, direkt aus der Tube aufgetragenen Farbschichten und den unterschiedlichsten Materialien schafft er eine visuelle Matrix aus expressivem Ausdruck und für sich stehenden, assoziativen Identitäten“ (Mark Gisbourne S. 126 f.). Martin Assig schließlich wird mit seiner farbintensiven Enkaustik auf Holz und Leinwänden, seinen Zeichnungen und Skulpturen zwar auch in das Kapitel Expression, Imagination und Subjektivität eingereiht, aber genau betrachtet sprengt er diesen Rahmen. Deshalb tauchen bei ihm auch die zusätzlichen Stichworte „Weihgaben, Ikonen, Art Brut“ (Mark Gisbourne S. 128) auf.

Der Überschrift Geschichte und kulturelles Narrativ werden Arbeiten unter anderem von Georg Baselitz, A.R.Penck, Jörg Immendorf und Anselm Kiefer zugeordnet, der Überschrift Abstraktion und Konzeption Arbeiten von Gerhard Richter, Imi Knebel, Thomas Schiebitz, Frank Nitsche, Hanna Darboven, Jorinde Voigt und Alicja Kwade und der Überschrift Präsentation und Kritik Arbeiten von Martin Kippenberger, Albert und Markus Oehlen, Werner Büttner, Rosemarie Trockel und Katharina Fritsch. Welcher Überschrift wird aber Ruprecht von Kaufmann mit dem größten Bild in der Rigaer Schau zugeordnet? Für Gisbourne gehört er wie Norbert Bisky zum Narrativ Geschichte und Kultur. Seine Bilder spielen auf das „Potenzial der fragmentarischen Erzählung“ an, „ auch wenn seine Werke anders als bei Bisky eher auf eine literarische Überzeugungskraft setzen und mitunter auf persönliche Familienereignisse und / oder historische Ereignisse anspielen. Der deutlich weniger politische Künstler vermischt in seinen Arbeiten häufig traumartige kindliche Bilderbuchwelten mit verrückten Fantasiewelten. Bis vor kurzem erstellte er chromatische Bilderserien, auf eine schwarze Phase folgte eine graue: in letzter Zeit wurde sein Werk jedoch zunehmend farbiger“ (Mark Gisbourne S. 130). Dass der am Art Center College of Design in Pasadena, Kalifornien ausgebildete und unter anderem mit dem großen Förderpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (Else Heiliger Foundation) und dem Förderpreis der Woldemar-Winkler-Stiftung ausgezeichnete von Kaufmann in seiner schwarzen Phase auf Gummi gemalt hat und dass er heute auf auf Holzplatten aufgezogenem Linoleum malt, geht in dem kurzen Text von Gisbourne unter.

ham, 12. Juli 2106

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