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herausgegeben vom Institut für moderne Kunst Nürnberg mit Beiträgen von Bazon Brock, Barbara Rothe
und Harriet Zilch

Hirmer Verlag München, 2016, ISBN 978-3-7774-2613-6, 384 Seiten, 660 Abbildungen in Farbe, Hardcover
gebunden, Format 24 x 27 cm, € 34,90 (D) / 35,90 (A) / 42,60 SFR (CH)
Winfried Baumann ist seinem Großthema Müll wohl erstmals in seinen Kindertagen beim Spielen in der
Veide Loch genannten Klinge begegnet, die mit dem Abfall des Dorfs Buch verfüllt worden ist. Für ihn und
die anderen Kinder des im Landkreis Würzburg zwischen Bad Mergentheim und Rothenburg an der Tauber
gelegenen Dorfs war der Müllplatz damals noch Abenteuerspielplatz, auf dem man Schätze entdecken, erobern,
mit nach Hause nehmen und verstecken konnte. Später ist ihm bei seinen Überlandfahrten von Nürnberg
nach Buch aufgefallen, dass sich ein bestimmter Waldrand allmählich verändert. Anfänglich war ihm
nicht klar, warum. Aber mit der Zeit ist ihm deutlich geworden, dass dort eine Müllhalde angelegt worden
ist. Damals hat Baumann begonnen, sich als Bildhauer für das Thema Müll zu interessieren und Müll, Schlacke
aus Müllverbrennungsanlagen, Altöl und andere Abfallprodukte unserer Konsumkultur als Werkstoffe
für sein plastisches Werk und seine raumgreifenden Installationen zu entdecken.

In seiner 1986 in der Kabelmetallfabrik in Nürnberg gezeigten Installation Deep Silence hat Baumann einen
190 cm hohen Spitzkegel aus 16 m³ Schlacke aus der Müllverbrennung in einer mit 800 Liter Altöl gefüllten
600 x 600 cm großen Wanne aufgeschüttet. 1987 folgt im Chor von St. Katharina in Nürnberg ein Rundkegel
auf dem Altar; ein von diesem Altar ausgehender Wasserlauf simuliert rotes Abwasser. 1996 entsteht für Hl.
Kreuz in Buch ein mit Altöl und Schlacke gefülltes quadratisches Keramikbecken in den Maßen des dortigen
Altars (Requiem Nr. 2) und eine runde Variante für die Kunigundenkapelle (Requiem Nr. 4). Baumanns 2000
in St. Lorenz in Nürnberg vorgestellter Reliquienschrein Harvest Festival zeigt keinen einbalsamierten
Leichnam eines Heiligen, sondern Schlacke aus der Müllverbrennung. Wir scheinen, so Baumann, in unserem
Konsumwahn einem Markenfetischismus aufzusitzen, ohne die Folgen zu bedenken. Und wir haben den
Konsum zur Ersatzreligion gemacht. In seinem Schrein des Mammon, 2014, führt er anschaulich vor, dass
wir das Geld und damit den falschen Gott anbeten. Auf dem wieder mit Schlacke gefüllten Keramikschrein
thront ein goldenes Kalb.

In seiner Werkgruppe der Kathedralen für den Müll konzipiert er Mülldeponien nach den Proportionen gotischer
Kathedralen und anderer sakraler Bauwerke. „Seit langem ist klar, dass nicht mehr die Produktion,
sondern die Entsorgung des Produzierten und Konsumierten zum zentralen Problem unserer Gesellschaft
geworden ist. So ist es folgerichtig, dass der Standort der neuen Müllverbrennungsanlage St. Leonhard in
Nürnberg nahe am Stadtzentrum liegt. Denn nur allzu oft werden die Abfälle fernab ihrer Entstehung und
ihre Herkunft an anonymen Orten entsorgt. Der Bereich der Müllverbrennungsanlage teilt sich in zwei wesentliche
Bezirke auf. Der innere Bezirk mit der zentralen Rostfeuerung und dem Müllbunker, der nur für
Spezialisten zugänglich ist. Hier findet im übertragenen Sinn die Zeremonie des Brandopfers statt. Der äußere
Bezirk, der ringförmig um die Zentralhalle angelegt ist, ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Von diesem
äußeren Bezirk können die Besucher den Akt der Müllverbrennung begleiten […]. An sechs Standorten besteht
die Möglichkeit, sich über Verfahrensabläufe zu informieren und Reststoffen in unterschiedlicher Konsistenz
zu begegnen. Es entsteht ein Parcours, der […] das Bewusstsein für Ressourcen schärft“ (Winfried
Baumann S. 170). Der Entwurf für die Sondermülldeponie Laogang ist in seinen Proportionen an den Jing’an
Tempel von Shanghai angelehnt, der Entwurf für die Deponie für radioaktive Abfälle in Kairo an die
Proportionen der Pyramiden von Gizeh. Sein Entwurf für die Mülldeponie Malpensa orientiert sich an der
Kubatur des Mailänder Doms.

Gefragt, ob er seine Entwürfe als utopische Projekte versteht, verneint Baumann entschieden. Er sieht sie
nach wie vor als Entwürfe für realisierbare Stadt- und Landschaftsplastiken und verweist auf die Hausmülldeponie
Atzenhof im nördlichen Stadtteil von Fürth. „Sie umfasst eine Fläche von ca. 10,5 ha […]. Die Deponie
dient der Lagerung von Haus-, Gewerbe- und Sperrmüll sowie von Klärschlamm. Die Grundfläche der
Deponie entspricht annähernd der eines Quadrates“ (Winfried Baumann, S. 200). In Verhandlungen mit der
Stadt hat Baumann eine Veränderung des ursprünglichen Bebauungsplans erreicht. Statt der zuerst als Hügel
gedachten Deponie wird der wachsende Müllberg jetzt in seinem Endzustand die Form einer verschobenen
Pyramide erreichen, die nach Süden flach und an der Nordseite steil abfällt und wie ein Stachel auf der Erde
sitzt. Sein Entwurf für einen skulptural gestalteten Sarkophag für Tschernobyl kam dagegen bisher nicht zum
Zug. Seine entfernt an die Brückenheiligen Nepomuk, Kilian, Josef und Pippin auf der Alten Mainbrücke in
Würzburg erinnernden geometrisch abstrahierten Wächter von Fukushima stehen ebenfalls noch zur Realisierung
an. Nach der Vorstellung von Baumann sollen die beschädigten Reaktorblöcke zum dauerhaften
Schutz vor radioaktiver Strahlung von überdimensionalen Wächter-Skulpturen nach den Proportionen des
Isis-Tempels von Philae überbaut und zu einem weithin sichtbaren Mahnmal der atomaren Gefahren werden.

Seine Version der in zahlreichen Statuen und Bildstöcken im Taubertal als Patrona Franconiae interpretierten
Heiligen Jungfrau Maria hat Winfried Baumann 2004 in einer ersten und 2014 in einer zweiten Version als
erzählerische grauschwarze Müll-Madonna realisiert: Winfried Baumann, Schwarze Madonna, 2004 / 2014,
158 x 52 x 34 cm, Teer, Gips, Schlacke aus der Müllverbrennung (vergleiche dazu Fresco, Das Magazin für
Kultur- und Kunstgenießer No. 02/2016, S. 6 und den Link http://www.fresko-magazin.de/wp-content/
uploads/2016/07/Fresko_02_2016_2.pdf, abgerufen am 7.1.2017). Baumanns Schwarze Madonna trägt wie
der Heilige Nepomuk einen Strahlenkranz, allerdings keinen aus Sternen, sondern einen aus Schlacken, Abfall
und Müll.

ham, 7.1. 2017

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