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Publikation zu den Ausstellungen ›Yury Kharchenko, Von Herschel Grünszpan über Simon Wiesenthal zu
Amy Winehouse‹ vom 13. Juli – 2. September 2018 im NS-Dokumentationszentrum Köln, ›Yury
Kharchenko, Kein Ort Zuhause‹ vom 19. August – 8. November 2018 im Felix Nussbaum Haus, Osnabrück
und zur Ausstellung ›Bild Macht Religion. Kunst zwischen Verehrung, Verbot und Vernichtung‹ vom 13.
Oktober 2018 – 24. Februar 2019 im Kunstmuseum Bochum, herausgegeben von Yury Kharchenko mit
Texten von Ygael Attali, Matthew Baigell, Gerard Goodrow, Kay Heymer, Nils-Arne Kässens, Christoph
Kohl und Helmut A. Müller

Kerber Art, Kerber Verlag Bielefeld/Berlin, 2018, ISBN 978-3-7356-0464-4, 256 Seiten, 224 farbige und 2
schwarzweiße Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 32,5 x 24,5 cm, € 45,00 (D) / CHF 55,26

Der 1986 in Moskau geborene deutsch-russische Maler Yury Kharchenko hätte eigentlich Yury Grynszpan
und damit mit Nachnamen wie Herschel Grynszpan heißen können, der am 7. November 1938 in Paris ein
Attentat auf den Diplomaten Ernst vom Rath verübt hat. Grünszpans Attentat diente bekanntlich als Vorwand
für die Novemberpogrome von 1938 und die sogenannte „Reichskristallnacht“. Aber Kharchenkos Großvater
hatte seinen Geburtsnamen Grynszpan abgelegt und sich in Kharchenko umbenannt, weil er seine jüdische
Herkunft in der Roten Armee verbergen wollte.

In der Malereiklasse an der Düsseldorfer Kunstakademie war Kharchenko wegen seines außerordentlichen
Gespürs für Farben und seines virtuosen Spiels mit pastos und lasierend aufgetragenen Ölfarben geschätzt,
aber man hat ihn trotzdem wegen seiner jüdischen Mutter mehr als einmal angemacht. 2009 ist er auf den
Straßen von Düsseldorf von Neo-Nazis verprügelt worden. In der Folge hat er es in den ersten Jahren seiner
Ausstellungstätigkeit wenn irgend möglich vermieden, von seinem jüdischen Hintergrund zu sprechen. Als er
bei der Vorbereitung seiner für Frühjahr 2016 geplanten Ausstellung in der Nordheimer Scheune gebeten
wurde, auf die Zerstörung der Synagoge der jüdischen Gemeinde in Heilbronn in der Reichspogromnacht
einzugehen, hat er diese Bitte abgeschlagen und stattdessen auf Arbeiten aus seinen Werkgruppen ›Häuser‹,
›Magic Windows‹ und ›Butterflies‹ gesetzt (vergleiche dazu http://www.helmut-a-mueller.de/
videogallery_items/ausstellungseroeffnung-yury-kharchenko-fenster-in-die-haeuser-am-5-maerz-2016/). Mit
der Folgeausstellung im Jüdischen Museum Westfalen im Juni, Juli und August 2016 beginnt seine explizite
Auseinandersetzung mit der Frage, was es heißen könnte, als säkularer Jude in Deutschland zu malen
(vergleiche dazu https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/25669). Kharchenkos Weg zu
möglichen Antworten ist in dem jetzt vorliegenden Katalog ›Yury Kharchenko, Painting. 2007 – 2018‹ in
seinen verschiedenen Stationen im Detail nachzuvollziehen (vergleiche dazu den Button „Blick ins Buch“
unter https://www.kerberverlag.com/de/yury-kharchenko-1682.html , https://www.google.de/search?
q=yury+kharchenko&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=2ahUKEwiltpWNg_TcAhXmAsAKHbn
8CkIQiR56BAgKEBg&biw=1677&bih=902 und https://www.facebook.com/photo.php?
fbid=2235962873083891&set=pcb.2235949709751874&type=3&theater).

Er setzt mit Bildern aus seiner frühen Werkgruppe ›Die zwölf Stämme Israels‹ ein, die in der Kunstkritik mit
der Bildsprache des amerikanischen abstrakten Expressionismus und insbesondere mit Mark Rothko und
Barnett Newman in Verbindung gebracht worden sind, geht weiter mit seinen ›Häusern‹, seinen ›Magic
Windows‹, den ›Butterflies‹ und den ›Porträts‹ und schließt ab mit seiner Werkgruppe ›Grynszpan‹, in der er
in die Rolle von Grynszpan schlüpft.

Heute kann man vielleicht sagen, dass Kharchenko seine Grundfragen „Woher komme ich?“ und „Wohin
gehe ich?“ nie verlassen, im ›Haus‹ ein Symbol für seine Suche nach Identität und Beheimatung und in den
›Magic Windows‹ eine „Urform“ für sein Werk gefunden hat. „Die Strukturierung mit dem Fenster fing noch
vor der Kunstakademie an. Das Fenster war für mich immer ein Symbol der Sehnsucht, der Naivität, der
Spiritualität. Damals, als ich diese Urform für mich entdeckte, habe ich über Chagall nachgedacht, denn er
war für mich ja Favorit meiner Kindheit und frühen Jugend. Ich erinnere mich an seine Ausblicke in
verschiedene Welten, die sich überkreuzen: der Eiffelturm oder das jüdische Schtetl. Er war mein
Lieblingskünstler, als ich 15 war. Und gleichzeitig hat es mich doch auch selbst interessiert, über die Fragen
des Innen- und Außenraums zu meditieren. Man schaut durch das Fenster und sieht aber das, was das eigene
Innere sehen will. Also ist das, was man sieht, vielleicht ja auch eine Frage der Einstellung. Vor einiger Zeit
habe ich überlegt, warum ich diese Bilder gemalt habe und bin zu der Überzeugung gekommen, dass sie
mich selbst in einer Art Allegorie darstellen. Ich bin diesem Thema treu geblieben, weil es etwas
Philosophisches, etwas Existentielles beinhaltet. Dass man immer durch ein Fenster oder eine Öffnung
schaut, sich alles wandelt und man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Man kommt da nicht durch und
befindet sich in einer hermetischen Transzendenz“ (Yury Kharchenko am 14. Januar 2017 / S. 250 f.).

ham, 17. August 2018

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